TORE ZUR WELT – HAFENSTÄDTE

 

Tore zur Welt – Hafenstädte: Laboratorien der Moderne 

Herausgegeben von Jörg Vögele, Luisa Rittershaus
Autor/en: Jörg Vögele, Luisa Rittershaus, Margrit Schulte Beerbühl, Nadine Borowietz, Loredana Fiorello
Buch (kartoniert), 232 Seiten, 35 farbige Illustrationen.
ISBN: 3868326405, Wienand Verlag & Medien Köln, 2021, 25 Euro

Der aufkommende Welthandel, Auswanderungswellen und immer größer werdende Dampfschiffe machten europäische Hafenstädte zu Knotenpunkten der frühen Globalisierung und zu Wegbereitern der Moderne. Auch alle Widersprüche dieser Epoche schienen sich hier zu manifestieren: Kommen und Gehen, Spass und Einsamkeit, Reichtum und Armut, modernste Technik und unqualifizierte Arbeit. Der Band beschäftigt sich anhand von Essays von Experten, z.B. Kunsthistoriker/inne/n und Sprachwissenschaftler/inne/n, mit den unterschiedlichsten interessanten Aspekten von Hafenstädten und Seefahrt. 




Mystischer Klang, harte Realität

Amsterdam, Hamburg, Liverpool, Marseille, Genua, Piräus, Odessa oder Honolulu (Foto rechts) - Hafenstädten wohnt noch immer ein mystischer Klang inne. Sie werden bis heute mit Handel, Schiffsverkehr, Auswanderung und Fernweh in Verbindung gebracht. Die Haupt- und Prachtstraßen – ob Reeperbahn, Tiger Bay oder Paradise Street – übten magische Anziehungskraft aus. Zum Hafen gehör(t)en Exotik und Erotik, Anrüchiges wie Glücksspiele, Tätowierungen, Schmuggel, Alkohol und Promiskuität der Matrosen. Hier trafen Alt und Neu, Abschied und Ankunft, ethnische Vielfalt und kosmopolitischer Charakter, Prostituierte und Matrosen, Seemannskneipen und Bordelle aufeinander. Ein babylonisches Sprachengewirr – jedoch strikt getrennte Wohnviertel der einzelnen Ethnien – sorgten für internationales Flair und Exotik und diese Atmospähre faszinierte Tourist/innen ebenso wie Künstler/innen, Schriftsteller/innen und Musiker/innen.  Und um diese geht es hier auch.


In dem von Paulina Rauh mit witzigen Zeichnungen versehenen Band, der im Wienand Verlag in Köln im Frühjahr 2021 erschienen ist,  herausgegeben von Jörg Vögele und Luisa Rittershaus, geht es um die Welt der Hafenstädte während ihrer Blütezeit im 19. und frühen 20. Jh. Eine breite Palette an Themen, z.B. »Frauen im Hafen« »Seemannstattoos«, »Seemännisch für Landratten«, der Schmuggel im Zeitalter Napoleons, »Seestücke« (Malerei) und die Rolle von Hafenstädten in Film, Musik und Literatur kommt da zur Sprache. Man wird an die Titanic, an Lilly Marleen, an Tango in den Seemannskneipen oder Goethes Italienische Reise und Venedig erinnert. Im Kapitel über Seemannsgarn, Kesselklopfersprache und andere Geheimsprachen wird klar, woher beispielsweise die Begriffe » klar Schiff machen«, oder »im selben Boot sitzen« kommen.

                                                  Häfen Seattle/WA und Galveston/TX

Die Liebe der Matrosen

Prostituierte gehören untrennbar zum Hafen, aber nicht nur sie. Von den »Staumädchen«, die die Ladung an Bord verstauten, bis hin zu »Domestic Service« und Kaffee-Sortiererinnen in den Lagerhallen – es wird vor allem deutlich, dass Frauen wichtige Fadenzieherinnen im  maritimen Alltag waren. Und das, obwohl es bis in die 1950er-Jahre dauern sollte, ehe Frauen erstmals als Funkerinnen anheuern durften. Bis die erste Frau ein Schiff steuerte, vergingen noch viele weitere Jahre.

Von Geschlechtskrankheiten über Homosexualität bis Sadismus unter der Besatzung, zwischen Einsamkeit und praller Lebenslust – die Seefahrt war eigen und Matrosen eine ganz besondere Spezies! Seemannstattoos – unterschiedliche Motive, die sich die Seemänner als Reisesouvenir, v.a. in Hafenstädten, stechen ließen sind ein weiteres Thema. Wie ernährten sich die Matrosen, welche Rolle spielte der Hamburger Fischmarkt, wie stand es um Genussmittel wie Kaffee, Alkohol und Tabakwaren – all das sind interessante Aspekte in dem Buch.

 
Foto links: The Kissing Sailor (San Diego/CA)

 

 

Hoffnungsvoll gen Westen

Auswanderer nutzten die Hafenstädte als Durchgangsstation: Von den 5,5 Mio. Emigranten, die zwischen 1819 und 1859 in die USA und nach Kanada fuhren, wanderten beispielsweise zwei Drittel über Liverpool aus. Auf transatlantischen Passagierschiffen gingen die Menschen oft auf wochen- oder  sogar monatelange Reise. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderte ein Großteil der Auswanderer aus West- und Nordeuropa über die Hafenstädte Antwerpen, Le Havre, Liverpool und Rotterdam in die Vereinigten Staaten aus. Vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg in den 1860ern waren die Hafenstädte Baltimore, Boston, New Orleans und Philadelphia wichtigste Einwanderungshäfen. 


Im Verlauf des 19. Jahrhunderts und mit steigender Attraktivität des dünner besiedelten Westen wurde New York City zum wichtigsten Anlaufpunkt. Zwar hatte es schon 1818 eine erste fahrplanmäßige Route Liverpool-New York City (Black Ball Line) gegeben, doch mit der Fertigstellung des Eriekanals 1825 expandierte der Hafen. Dampf- und Segelschiffe fuhren Ellis Island jedoch nicht direkt an, sondern legten an den Pieren des Hudson oder des East River an. Die Passagiere der 3. Klasse wurden von dort mit Fähren nach Ellis Island (siehe Fotos oben) gebracht um sie  medizinisch zu untersuchen und ihre Papiere zu kontrollieren, die in den besseren Klassen konnten gleich an Land gehen.

Paulina Rauh, freiberufliche Illustratorin hat den Band analog, mit Tuschestift und Aquarell, bebildert. Auch in die Gestaltung des Layouts sind analoge Techniken eingeflossen: Titel sowie Seitenzahlen sind händisch gestempelt. Das Buch endet mit einem Anmerkungsteil und mit der Vorstellung der Autor/inn/en. Alles in allem ein inhaltlich hochinteressanter und schön gestalteter Band zum Thema Hafen, Seefahrt … und zu vielen anderen Seitenaspekten. 

Queen Mary II.