Ta-Nehisi Coates, Der Wassertänzer

Ta-Nehisi Coates, Der Wassertänzer.

 

Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben 

Originaltitel: The Water Dancer, Penguin Random House LLC

Hardcover mit Schutzumschlag, 544 Seiten

ISBN: 978-3-89667-658-0

Karl Blessing Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition, März 2020

Buchcover Foto ©Verlag

 

2015 veröffentlichte der amerikanische Journalist Ta-Nehisi Coates, 1975 in Baltimore/Maryland geboren, das Buch „Zwischen mir und der Welt“ (Between the World and Me) und in diesem erklärte er den Rassismus zum zentralen Element der amerikanischen Gesellschaft. In seinem folgenden Essay „We Were Eight Years In Power. Eine amerikanische Tragödie“ (2017) arbeitete Coates klar die Unterschiede zwischen Donald Trump und Barack Obama, zwischen Weiß und Schwarz, heraus. 

 

Die Themen Rassismus und »White Supremacy« beschäftigen den heute in New York lebenden Autor auch in »Der Wassertänzer«, seinem ersten Roman. Um diesen besser verstehen zu können, muss man wissen, dass Coates auch Texte für Comics und Pulp Fiction verfasst, u.a. war er für Marvels schwarzen Superhelden "Black Panther"  verantwortlich, einen Prinzen aus dem hoch entwickelten afrikanischen Königreich Wakanda, das unsichtbar unter einer Art Glasglocke liegt.

 

Underground Railroad und Harriet Tubman

Wie Coates in Maryland aufgewachsen, ist auch Harriet Tubman (1820-1913), die charismatische Kämpferin gegen die Sklaverei und Triebfeder der Underground Railroad im 19. Jahrhundert. Sie spielt eine Hauptrolle in Coates Roman, der in der Zeit der Sklaverei, also vor dem Bürgerkrieg 1861-65, großteils auf einer Tabakplantage in Virginia namens Lockless spielt.  Hauptfigur ist Hiram Walker, ein junger Sklave mit  besonderer Begabung, der seiner Gefangenschaft entkommt und sich der Underground Railroad anschließt. 

 


Die Mutter des in der Sklaverei geborenen Jungen, Rose, war verkauft worden, der Vater, Howell Walker, ist der Plantagenbesitzer höchstpersönlich, weswegen Hiram auch hellerhäutig ist als die anderen auf der Plantage arbeitenden Schwarzen und sich auch manchmal ein klein wenig privilegiert führt. Er lebt im  »Labyrinth«, wie die Sklavenquartiere genannt werden, bei seiner Ersatzmutter Thena, und arbeitet als Teil der »Task«, als Hauspersonal, nicht auf dem Feld. 

 

Obwohl er intelligent und mit fotografischem Gedächtnis ausgestattet ist, weswegen er zeitweise sogar Unterricht bekommt, wird sein eher einfältiger weißer Halbbruder Maynard stets vorgezogen. Auf diesen muss er später auf Geheiß des Vaters »aufpassen«, d.h. er wird zu dessen Diener, kann aber sein Ertrinken, verursacht durch den Übermut des Stiefbruders, nicht verhindern. Als er sich in Sophia, die in »Liebesdiensten« des Bruders des Plantagenbesitzers, Nathaniel Walker steht, verliebt und plant, mit ihr zu fliehen, täuscht er sich in einem von ihm geschätzten Freigelassenen, Georgie Parks, wird verraten und gefangengenommen.

 

 

Soweit der erste, »realistische« Teil des Buches, in dem es um den Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung geht, um Ungerechtigkeiten und weiße Arroganz, allerdings kommt es, anders als in vielen Romanen zum gleichen Thema, nicht zu grausamen Prügelszenen oder detailreich geschilderten Hetzjagden. Der politische Essayist Ta-Nehisi Coates differenziert subtil zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern, Herren und Sklaven.

 

Telepatische Kräfte und der Gang übers Wasser

Danach wird es »fantastischer«, Hiriam entwickelt sich zum Held mit Superkräften, was dem Spannungsbogen des Romans keinen Abbruch tut, lediglich eine andere Wendung gibt. Nach seiner Zeit in Gefangenschaft, getrennt von seiner Liebsten, gepeinigt von Schmerz, Verlust und Leid, findet sich Hiram auf der benachbarten Plantage Bryceton von Corinne Quinn, der vormaligen Geliebten des Stiefbruders Maynard und einer nun vorgeblich engen Vertrauten des Vaters wieder, die ihn zum Teil ihres heimlich betriebenen Netzwerks Underground Railroad macht. Bis er ins »freie« Philadelphia, eine weitere wichtige Station des Hilfsnetzes, kommt, ist er Rädchen im Getriebe der von Quinn streng und unerbittlich geführten Organisation.

 

Erst in Philadelphia spürt Walker bei Raymond und Otha White und deren Familie erstmals Zuneigung, Liebe und Zusammengehörigkeitsgefühl. Er schätzt seinen ehemaligen Lehrer und Underground-Agenten Mr. Fields/Micajah Bland, der jedoch bei einer Fluchthilfe umkommt. Er trifft auch erstmals (Grandma) »Moses«, wie Harriet Tubman genannt wird, deren telepatischen Fähigkeit er mit ihr teilt: über Wasser gehen zu können wenn es ihm gelingt, zu „tiefsitzenden Erinnerungen“ vorzudringen. Mit dieser „Power of Conduction"  ist es ihm möglich, Schwarze aus dem Süden in den Norden zu bringen, statt sie „Natchez-way“ ins Verderben zu schicken. Tubman (Foto unten, Wikimedia Commons) ist hochangesehen unter ihren Gefolgschaftsleuten und Hiram hilft ihr in einer »Privataktion«, Familienangehörige aus der Sklaverei zu befreien.

Sieg für die Gerechtigkeit

Später kehrt Hiram im Dienste der Organisation auf die väterliche Plantage zurück und ist nun überzeugt, für den Frieden und die Freiheit der Sklaven kämpfen zu müssen. Ziel ist vor allem, Sofia, inzwischen mit Tochter Caroline, und Thena zu »retten«. Die Plantage des immer schwächer werdenden Vaters befindet sich im Verfall und wird am Schluss des Romans, nach seinem Tod, zu einer weiteren Underground-Railroad-Station von Corinne Quinn.

 

Zugegeben, ich habe den Roman in der englischen Ausgabe gelesen, wo lediglich sonst eher unübliche Begriffe wie »Task« (zusammenfassend, jene Sklaven, denen eine konkrete Aufgabe, meist im Haus zukommt, im Unterschied zu anderen, die von Sonnenauf- bis -untergang auf den Feldern arbeiten mussten), zunächst etwas seltsam anmuteten. Es gibt die »privileged«, die Besitzenden, und die »ordinary«, man könnte sagen die tumben Rednecks. In der deutschen Übersetzung hat man versucht, Dialekt und Slang, nachzuahmen, was jedoch immer ein schwieriges Unterfangen ist. Die Sprache wirkt dadurch sehr modern, man meidet das Wort »Sklave« und benutzt politisch überkorrekt den Begriff »Verpflichtete«.

 

Es ist ein sehr emotionaler, poetischer, teils fantastisch-spirituell anmutender Roman über die Zeiten der Sklaverei, über den Underground und den Kampf von Sklaven für die Freiheit. Der Schreibstil von Coates ist dynamisch, farbig und wortgewaltig. Anhand einer Vielzahl an Nebencharakteren mit unterschiedlichsten Leidensgeschichten unternimmt der Autor eine schonungslos ehrliche Bestandsaufnahme des Schreckens der Sklaverei und des Rassismus, stellt Fragen der Ethik und Moral und bietet höchst spannenden (und informativen) Lesestoff.

 

Therese Anne Fowler, Z. A novel of Zelda Fitzgerald


Therese Anne Fowler, Z

A novel of Zelda Fitzgerald

ISBN-10 : 9781250028662

ISBN-13 : 978-1250028662

Taschenbuch : 400 Seiten

Hsg.: Macmillan USA 2013

Sprache: Englisch

 

Dieser unterhaltsame, temporeiche und zum Nachdenken anregende Roman ist bisher (leider) nicht auf Deutsch erschienen. Er spielt in einer anderen Zeit, in den Roaring Twenties, den turbulenten 1920er-Jahren in New York City, aber auch in Frankreich, und seine Bühne ist die intellektuelle „High Society“. 

 

Jeder kennt Francis Scott Key Fitzgerald (1896–1940) und sein Erfolgswerk "The Great Gatsby" (Der große Gatsby, 1925), der 2013 mit Leonardo DiCaprio verfilmt wurde. Der hierzulande weniger bekannte erste Roman des amerikanischen Schriftstellers  hieß "This Side of Paradise" (Diesseits vom Paradies) und diesen hat Fitzgerald 23-jährig, Ende März 1920, veröffentlicht. Er machte ihn innerhalb kurzer Zeit berühmt, geriet dann jedoch in den 1930ern in Vergessenheit und wurde erst später wiederentdeckt.

 

Vom Großen Gatsby zu Zelda

In dem Roman „Z“ von Therese Anne Fowler, um den es hier gehen soll, steht jedoch nicht der Autor, sondern seine Frau Zelda Sayre – „Z“ steht für Zelda – im Vordergrund. Wie im Great Gatsby geht es auch hier um Themen wie Dekadenz, Ausschweifungen und soziale Umbrüche vor dem Hintergrund der „Roaring Twenties“, um Wirtschaftswachstum und Prohibition.

 

Zelda war weit weniger bekannt als ihr berühmter Mann, dabei war sie die treibende Kraft in der Partnerschaft. Sie war seine schillernde, temperamentvolle, stets Aufsehen erregende, aber auch energische Lebenspartnerin, die es intellektuell wie künstlerisch leicht mit ihm aufnehmen konnte. Sie war zudem seine Lektorin und Beraterin.

 

Fitzgerald hatte es als junger Armee-Lieutenant im ersten Weltkrieg 1918 nach Montgomery/Alabama verschlagen, wo er das Herz einer aufrührerischen Southern Belle aus konservativer Familie namens Zelda Sayre eroberte. Nach seinem ersten Bucherfolg „entführte“ er die 19-Jährige nach New York City und heiratete sie 1920 in der  St. Patrick's Cathedral. Von da an wurde wild gefeiert und getrunken, erst in New York, dann in Frankreich, wo Scott an seinem nächsten Roman arbeitete.

 


Leben und Feiern in den Roaring Twenties

„Sometimes“, so F. Scott Fitzgerald, „I don't know whether Zelda and I are real or whether we are characters from one of my own novels“. Es ist eine ganz besondere Love (& Hate) Story, die in den turbulenten Zwanziger Jahren spielt, in denen der Jazz aufblühte und der Frauentyp der „Flapper“ aufkam – unkonventionelle junge Damen, die kurzen Bob und kurze Röcke trugen und voll ins Gesellschaftsleben eintauchten. Es war die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, als Normalität einkehrte und Errungenschaften wie Auto, Telefon, Radio oder Kino das Leben wieder lebenswert machten. Industrie und Wirtschaft blühten auf und Kultur und Lebenskunst erhielten neuen Stellenwert. Erst der Wall Street Crash 1929 beendete die Blütezeit und ließ die Great Depression folgen.


Die Fitzgeralds verkehrten in der High Society, in New York, Paris und an der Cote d’Azur. Man traf sich im Sommer mit Picasso, Cole Porter, Gertrude Stein, Alice B. Toklas, Ezra Pound und Jean Cocteau, feierte und knüpfte Kontakte. Scott Fitzgerald pflegte eine enge Freundschaft mit Hemingway (Foto rechts), den Zelda wiederum nicht leiden konnte (und vice versa). Zelda war nicht nur eine exzentrische Schönheit, sondern auch selbst eine kreative, Frau, literarisch und künstlerisch begabt und vor allem eine vielversprechende Tänzerin. Allerdings wurde sie im Verlaufe ihrer turbulenten Ehe, aus der eine Tochter hervorging, mehr und mehr zur missverstandenen, unterdrückten Partnerin, deren eigener Roman niedergemacht wird und die sich ihrem geltungssüchtigen, immer zweifelnden, gefühlskalten und alkoholsüchtigen Gemahl beugen musste. 

Anfänglich ist im Roman die Stimmung heiter und ausgelassen, alkoholselig und ausschweifend, sie wird aber im Laufe der Partnerschaft und der beruflichen und charakterlichen Entwicklung von F. Scott Fitzgerald immer melancholischer und düsterer. Vor allem Zeldas Leben verändert sich, sie wird depressiv. Von junger, stürmischer Liebe ist bald keine Spur mehr da, an ihre Stelle treten Unterdrückung, Bosheiten, Seitensprünge, Alkoholsucht und Krankheit.

 

Von Frauenpower noch keine Spur

Das Buch ist eine lebhafte Beschreibungen der damaligen Gesellschaft, von Glanz und Glamor, Oberflächlichkeit und Exzessen. Es zeigt aber auch die geringe Wertschätzung und die Unterdrückung von Frauen in dieser Zeit. Letztendlich scheitert Zelda daran, sich aus dem „Zwangskorsett“ zu befreien und selbst zu verwirklichen. Das Ende steht im Zeichen von Alkoholismus bei F. Scott Fitzgerald und einer psychischen Erkrankung, wohl schwere Depressionen, bei Zelda. Ab 1930 wird sie immer wieder, teils gegen ihren Willen, in psychiatrische Kliniken eingewiesen und häufig falsch behandelt bzw. sogar misshandelt.

 

F. Scott Fitzgerald starb 1940 im Alter von nur 44 Jahren in der Überzeugung, sein Lebensziel verfehlt zu haben, nämlich sich als bedeutender Autor seiner Zeit zu beweisen. Zelda kam 48-jährig, 1948, beim Brand eines Hospitals um, in dem sie sich wieder einmal zur Genesung aufhielt. Die Tochter, die bezeichnenderweise nach dem Autor benannt wurde, Frances Scott Fitzgerald (1921–1986), wurde Journalistin, Autorin und prominentes Mitglied der Demokratischen Partei.

 

Hinweis: Unter dem Titel Z: The Beginning of Everything“ zeichnet eine US-amerikanische Fernsehserie, die es bei Amazon Prime Video zu sehen gibt, das Leben von Zelda nach.

 

© Text/Fotos: MB-PK

JEANINE CUMMINS, AMERICAN DIRT


Jeanine Cummins

American Dirt

Übersetzung: Katharina Naumann

Taschenbuch, 560 Seiten

ISBN 978-3-499-27682-8

Rowohlt Taschenbuch, 1. Aufl. 2020

 

American Dirt“ erschien in den USA im Januar 2020 und gelangte schnell an die Spitze der New York Times Bestseller-Liste. Allerdings kamen schon bald öffentliche Vorwürfe unter dem Deckmantel des „Verbots der kulturellen Aneignung“ auf: Eine weiße junge Frau könne und dürfe einen solchen Roman doch nicht schreiben! Dazu wurde dem Verlag bzw. dem Verlagswesen insgesamt vorgeworfen, lateinamerikanische Autoren zu benachteiligen. Ende April erschien „American Dirt“ dann auf Deutsch im Rowohlt Verlag, und, um es gleich vorwegzunehmen, es ist ein absolut lesenswertes Buch!

 

Respekt gegenüber Migranten

Die Amerikanerin Jeanine Cummins wurde in Spanien geboren und lebt heute als Autorin in New York. Cummins – selbst zu einem Viertel Puerto-Ricanerin – erklärte auf die Anschuldigungen hin, dass es ihre Absicht gewesen sei, lateinamerikanische Einwanderer würdevoll darstellen und den verbreiteten Eindruck einer „hilflosen, verarmten, gesichtslosen braunen Masse, die auf unserer Türschwelle um Hilfe schreit“ zu revidieren. Und das ist ihr auch hervorragend gelungen!

Dennoch wurde ihr vorgeworfen, sie würde den Kampf der Migranten stereotyp, verletzend und beleidigend darstellen. Ihre Lesetour wurde abgesagt, es kam zu Ausschreitungen und bösen Kommentaren in Social-Media-Kanälen. Die Frage nach dem Anlass für diesen Aufstand führt vermutlich ins Politische, denn weder Polizei noch Grenzschutz kommen in dem Buch gut weg, nicht in Mexiko und auch nicht in den USA.

 

Abenteuerliche Fluchtaktion

Es ist ein an sich einfacher Plot, eine Fluchtgeschichte, mit einer begrenzten Anzahl von Akteuren, allerdings solchen, die man in Erinnerung behält. Es geht um eine Odyssee in den Norden Mexikos mit dem legendären Flüchtlingszug „La Bestia“ – wobei damit nicht eine einzelne Linie oder ein Zug gemeint ist, sondern ein Netz aus Güterzügen –, und um eine korrupte, hinterhältige und sexistische Policia auf mexikanischem bzw. Border Patrol auf amerikanischem Boden.

 


Hauptfigur der abenteuerlichen Rettungsaktion ist Lydia Quixano Pérez, die in Acapulco einen kleinen Buchladen betreibt und mit Mann Sebastián und Sohn Luca ein gutes Mittelklasse-Leben führt. Als eines Tages ein Mann namens Javier, belesen und charmant, im Buchshop auftaucht und zwei ihrer immer vorrätigen Lieblingsbücher auswählt, verliebt sie sich in ihn. Er wird zum Stammgast und Vertrauten. Zu diesem Zeitpunkt weiß Lydia noch nicht, dass er Jefe eines Drogenkartells namens Los Jardineros ist, und ihr mutiger Mann, ein Journalist, gerade einen Enthüllungsartikel über ihn verfasst hat.

 

Wenig später wird bei einer Geburtstagsfeier die gesamte Familie Lydias Opfer eines brutalen Massakers von „los sicarios“, den Killern des Kartells. Es ist reiner Zufall, dass sie und ihr 8-jähriger Sohn verschont bleiben, sie müssen jedoch umgehend fliehen, noch bevor die eher uninteressierte Policia den Fall aufnimmt. Die beiden werden zu Migranten und darum geht es im Großteil des Buches. Um die Flucht vor den Drogenkartellen quer durch Mexiko, über mehr als 1000 Meilen, und dann zu Fuß über die Grenze in die USA. 


Obwohl Lydia, zumindest anfangs, durchaus Geld für Flug- oder Bustickets hat, muss sie solche Verkehrsmittel meiden, um keine Fährte zu hinterlassen oder von korrupten Straßenblockaden gefasst zu werden. Sie erfährt erst viel später, das Javier Fuentes, der Boss, immer wusste, wo sie ist. Anfangs geht es noch per Bus, immer auf der Hut, Richtung Mexico City, dann weiter mit „La Bestia“, auf den Dächern von Güterzügen, gen Norden, getrieben von der Hoffnung auf ein neues, unbedrohtes Leben. Der Marsch durch die Sonorawüste, geführt von einem Schlepper, ist die letzte Etappe der brutalen Reise von Lydia, Luca und einige Weggefährten.

Die Frage nach dem Warum


Es geht in diesem Roman allgemein um die Fragte, warum Leute Lateinamerika verlassen und den gefährlichen Weg zur US-Grenze einschlagen. Wie viel Mut und welche Hartnäckigkeit sind nötig, durch „Kartell-Land“ und unter Einsatz des Lebens zur US-Grenze zu gelangen, um dann, in den meisten Fällen, bei der Flucht gefasst und abgewiesen zu werden.

 Besonders schön ist die Schilderung von Luca, dem scheuen Jungen, der anfänglich wenig spricht, aber scharf beobachtet und ein geografisches Genie ist. Brutalität und Machismo, Bestechung und Vergewaltigung, Hitze, Hunger und Verzicht, Mißtrauen und Angst prägen die fesselnde Schilderung und lassen Lydia und Luca über sich hinauswachsen. Sie schließen sich mit den Zwillingsschwestern Soledad und Rebeca, 15 und 14 Jahre alt, aus Honduras zusammen und verbünden sich mit ihnen gegen dubiose und gefährliche Gestalten aller Art.


Im Zentrum dieses Romans stehen der Kampf ums Überleben und bedingungslose Mutterliebe, es geht aber auch um Nächstenliebe seitens der meist armen Bewohner entlang der Flüchtlingsrouten, die Hilfsaktionen kirchlicher Gruppen und um den schmalen Grat zwischen Zusammenhalt und Misstrauen unter den. Denn die Angst vor dem Verschwinden, vor Unfällen, Verstümmelung und Tod ist überwältigend und omnipräsent. Dieser Roman ist eine ebenso anrührende und mitreißende wie brutal-realistische Story, die sich fast wie ein Thriller liest und zum Denken anregt. Nicht entgehen lassen!

 

© Foto Buchcover: Rowohlt Verlag, alle anderen: MB


Ashok Sinha

Gas and Glamour

Roadside Architecture in Los Angeles

Texte: Jack Esterson, Craig Kellogg, Sherri Littlefield, Ashok Sinha

Gestaltung: Kehrer Design (July Mollik)

Festeinband, 72 S., 59 Farbabb., Englisch

ISBN 978-3-86828-974-9

38 €

 

 

 

Ashok Sinha wurde 1975 in Kalkutta/Indien geboren, er lebt aber seit vielen Jahren in New York City, hat an der dortigen Columbia University studiert und u.a. im International Center of Photography ausgestellt. Seine Fotos wurden bereits im National Geographic, The New York Times und diversen Architektur- und Design-Magazinen publiziert. Obwohl er in NYC lebt (und dort vermutlich kein Auto braucht), sagt er:„I love cars and I love Lo Angeles for being a city of cars“.

 

Autokultur mit Stil

Das dürfte auch der Grund sein, dass sich sein kürzlich im Heidelberger Kehrer Verlag (auf Englisch) erschienenes erstes Buch „Gas and Glamour“ mit Amerikas goldenes Zeitalter des Automobils und der entsprechenden Architektur im Großraum Los Angeles beschäftigt. Während die Fahrzeuge verschwunden sind, gibt es etliche Gebäude dieser vergangenen Ära noch, wenn auch nicht immer in ihrer ursprünglichen Verwendung.

 


Die Städte wuchsen, allen voran der Großraum Los Angeles. Mehr und mehr Straßen verbanden die Suburbs mit dem Stadtkern und dort entstanden neue Wirtschaftszentren. Die Strecken wuchsen, Mobilität wurde zum „Volksgut“ und das Auto zum zweiten Wohnzimmer. Ab den 1930er-Jahren war einhergehend mit Straßenbau und wachsendem Autoverkehr eine „drive-up & drive-thru culture“ entstanden. Vor allem entlang der „Miracle Mile“, dem Abschnitt des Wilshire Blvd. zwischen Fairfax und La Brea Ave., wurden Läden, Lokale, Coffeeshops und Imbisse in futuristischer Googie Architecture gebaut.

 

Googie Architecture

Der Name Googie-Architektur leitet sich von Googie’s Coffee Shop in Hollywood ab, der von John Lautner 1949 entworfen (und 1989 abgerissen) wurde. Charakteristisch waren kurvig-geschwungene, flügelartige Dächer, viel Neon, Glas und Stahl, Bumerang- und Ufo-artige, aber auch geometrische Formen, große auffällige Schilder und Schriften. 1939 war John Lautner, ein Schüler Frank L. Wrights, nach Los Angeles gekommen und hatte erstmals mit diesem Stil für Aufsehen gesorgt. In seinen Fußstapfen folgten andere: Wayne McAllister zeichnete für Bob’s Big Boy (1949) in Burbank verantwortlich, und Douglas Honnold und das Architekturbüro Louis Armet und Eldon, bei dem Helen Liu Fong arbeitete, machten sich ebenfalls einen Namen.

 


„Googie“ ist eine futuristische, von Autokultur, Flugverkehr, Raumfahrt und Space Age beeinflusste Architektur. Ihre Ursprünge liegen in Kalifornien und sie war vor allem beliebt  von etwa 1945 bis Ende der 1960er im Bereich der auto-bezogenen Zweckbauten. Weiter gefasst und stärker auf den Wohnbau bezogen, „seriöser“ und strenger, ist dagegen der „Mid-century Modern Style“, dem Googie häufig zugerechnet wird.

 

Goldenes Automobilzeitalter

Der Architekturfotograf und Autoliebhaber Sinha zeigt, welche Rolle die Autokultur in L.A. spielte und weshalb ausgerechnet dort eine ganz spezielle Art von Roadside Architecture entstand. Autokult und Werbearchitektur gingen eine Symbiose ein, denn um einen Ort oder eine Attraktion schnell, im Vorbeifahren, aus dem Auto wahrnehmen zu können, mussten die Gebäude ins Auge fallen. Autowaschanlagen und Tankstellen, Coffee Shops und Imbissstationen wurden in den 1950ern und 1960ern entsprechend auffällig gestaltet. Heute sind sie Relikte der Vergangenheit und häufig bedroht.

 

Sinha machte sich daher daran, ein Kapitel Design-Geschichte festzuhalten. Er verewigte Gebäude, die als Billboards fungierten, ikonische, teils auch humorvolle Symbole des Konsums waren. Wie Skulpturen prägten sie das Straßenbild, zum Beispiel die älteste McDonald’s Filiale von 1953 – wie auf dem Buchcover abgebildet.  Weiteren „Eyecatcher“ und „Architektur-Ikonen“ sind beispielsweise The Donut Hole (zwischen 1947 und 1968 erbaut) oder die Driftwood Dairy – einer Bogenkonstruktion in Regenbogenfarben von 1961 in El Monte (heute leerstehend). Randy’s Donuts ist ein bis heute existierender Imbiss in Inglewood, der in Form eines knapp 10 m hohen Rings den „most famous donut in the world“ zeigt.

 


Bob’s Big Boy Broiler von 1958, wurde 2010 mit seinem signifikant-langen Schriftzug wiedereröffnet, nachdem das Gebäude zwischenzeitlich als Autohaus gedient hatte. Es ist eines der ältesten Drive-in Restaurants im Googie-Stil und gilt als Geburtsort des Doppeldecker-Hamburger. Mel’s drive-in (1953, von Eldon Davis, Louis Armet), heißt erst seit 1989 „Mel’s“. Norms Coffee Shop (1957, mit pfeilförmigem Dach und ungewöhnlichem Schild) oder eine Denny’s-Filiale (1967 als „Van De Kamp’s Holland Dutch Bakery“ eröffnet,) mit Zickzack-Dach und Windmühle mit rotierenden Blättern, machten Autofahrer auf sich aufmerksam.

 

Alles für den Reisenden


Als Autohaus 1949 gebaut und immer noch als solches betrieben wird die „Casa de Cadillac“. Ebenfalls den Grundbedürfnissen von Autofahrern trägt die Union 76 Gas Station vom Architekturbüro Pereira & Ass. (1965) mit futuristisch aerodynamischen Dach Rechnung (Foto re.). Autowaschanlagen wie Jet Wash (Inglewood, 1961) oder National Car Wash (North Hollywood) zogen ebenso Blicke auf sich wie Bowling Alleys à la Bowlium (1958, Long Beach) oder Bowlero (Woodland Hills, 1961) und Strip Malls wie das Fleetwood Center oder der Galpin Square Department Store. Nicht zuletzt sind Motels gute Beispiele für die Architektur der Zeit. Das Saga Motor Hotel in Pasadena von 1959 lag einmal an der Route 66, ebenso wie das Wigwam Motel (1947). Ebenfalls augenfällig sind das Flamingo Motel (1861) oder das Ritz Motel (1962).

 



Hinten in dem schmalen breitformatigen Buch befindet sich eine Übersicht der vorgestellten Gebäude mit kleinen Bildern (anderen als vorn) und Adressen, mit Strichcodes zum Scannen um die Location auf Google Maps zu finden. Die Fotografien sind grandios, die ausgewählten Beispiele decken ein breites Spektrum ab. Was man sich jedoch vielleicht noch gewünscht hätte, wäre etwas mehr Text, vor allem eine etwas umfangreichere Einführung ins Thema gewesen. Nicht jeder dürfte schließlich wissen, was z.B. genau „Googie Architektur“ ist. 

 

                                                         Fleetwood Center

 

INFOS/WEITERFÜHRENDE LITERATUR

- https://ashoksinha.com

- Alan Hess, Googie Redux: Ultra Modern Road Side Architecture (2004, Hsg.: Chronicle Books), u.a. bei Amazon erhältlich.

- M. Brinke - P. Kränzle, CityTrip Los Angeles, Reise Know-How Verlag, 2019

 

Fotos:  

© Kehrer Verlag Heidelberg mit Ausnahme Foto 2 (©MB) und Foto 3 (©Discover Los Angeles).




Heike Bungert, Die Indianer


Heike Bungert

Die Indianer. Geschichte der indigenen Nationen in den USA

C.H. Beck-Verlag, München 2020

286 Seiten mit 12 Abb. und zwei Karten, Broschur, 16,95 €

ISBN 978-3-406-75836-2

 

Deutschlands besondere Beziehung zu den Indianern zeigt die schier unendliche Breite an Publikationen in den Buchregalen, meist aufwändig bebildert. Angesichts dessen wundert man sich zunächst, dass der C.H. Beck-Verlag kürzlich ein eher unscheinbares Taschenbuch zum Thema auf den Markt brachte. Doch das Buch „Die Indianer. Geschichte der indigenen Nationen in den USA“ von Heike Bungert brilliert durch seinen Inhalt und ist ein neues Highlight zum Thema „Indianer“. Jedem an den indigenen Völkern der USA interessierten Leser sei deshalb die Lektüre dieses Taschenbuches ans Herz gelegt.

 

 

Taschenbuch mit schwergewichtigem Inhalt

Die Geschichte der Indianer beginnt zwar vor über 16.000 Jahren, mit ihrer Ankunft in Nordamerika, doch erst mit der Ankunft der „Weißen“ – also der europäischen Abenteurer und Kolonisten – im 15. Jahrhundert erlebten die indigenen Völker auf dem nordamerikanischen Kontinent einschneidende Veränderungen.


Auf nur knapp 280 Seiten ist es Heike Bungert, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Nordamerikanischen Geschichte an der Universität Münster, gelungen, eine Gesamtdarstellung der Geschichte der indigenen Kulturen Nordamerikas zu liefern. Sie beschreibt die Begegnung mit den „Euroamerikanern“ – wie sie die weißen Neusiedler nennt –, die Vertreibung der indigenen Völker, den Versuch der Zerstörung dieser Gesellschaften, aber auch den Widerstand der Indianer.

 

Während in den meisten Werken zu den Indianern immer die gleichen Stämme und dieselben indigenen Führer im Vordergrund stehen und es um Kriege und Vertreibungen oder die allbekannten Klischees vom „Edlen Wilden“ und seiner Naturverbundenheit geht, bleibt Bungert konsequent sachbezogen. Sie richtet ihren Blick aufs Ganze und befindet sich auf dem neuesten Stand der Forschung. Dazu liefert Bungert neue Ansätze: So waren die Indianer nicht nur „passive Opfer, die ... im Einklang mit der Natur lebten und von .... Euroamerikanern verdrängt und ermordet wurden“. Auch ist die Autorin breit aufgestellt was Stämme betrifft und bleibt nicht beim Widerstand in den 1970ern stehen.

Vier Hauptziele

Bungert verfolgt vier Hauptziele: Erstens soll die durchaus auch aktive Rolle indigener Gruppen gezeigt werden. Es geht nicht nur um Adaptationen, sondern auch um geschickte Politik, um Widerstand und Revitalisierungsbewegungen. Zweitens will die Autorin einen umfassenden Überblick über die indianische Geschichte geben, bis zur Zeit unter Präsident Trump. Da es unmöglich ist, alle der über 600    indigenen Völker zu behandeln, versucht Bungert in den einzelnen Kapiteln beispielhafte Gruppen herauszugreifen. Drittens befasst sie sich erstmals auch mit den Frauen und ihren Rollen in bestimmten Gruppen. Und schließlich steht die Darlegung der gegenseitigen Wahrnehmung und besonders das euroamerikanische, im ständigen Wandel begriffene Indianerbild, das auch die Indianerpolitik beeinflusste und beeinflusst, im Zentrum. Besonderes Augenmerk richtet Bungert auf die bis heute schwierige Koexistenz zwischen dem Staat und den Indianern.

 

Sioux Falls/SD-Good Earth SP, Mural im Museum

Geschichtsabhandlung in 13 Kapiteln

Nach einem Vorwort, in dem sich die Autorin ausführlich mit dem Begriff „Indianer“ auseinandersetzt, geht es in 13 Kapiteln um verschiedene historische Perioden:

- Ursprünge (14.000 v. Chr.–ca. 1400 n. Chr.)

- Kultur, Sprache und Lebensweise vor Ankunft der Euroamerikaner (1400 – 1513)

- Formen des Kontaktes und Auswirkungen (1513 – 1689)

- Von der Teilnahme an europäischen Kriegen zur Indianerpolitik der jungen USA (1689 – ca. 1820)

- Indianische Erneuerungsbewegungen und der Widerstand gegen die Euroamerikaner (1762 – ca. 1820)

- Die US-amerikanische Vertreibungspolitik und die Reaktion der Indigenen (1820 – ca. 1860)

- Die Besiedlung des Westens und die Auswirkungen für die Indigenen (ca. 1840 – 1890)

- Versuche zur „Zivilisierung“ der Indianer (1870 – ca. 1910)

- Widerstand und panindianische Bewegungen (1870/1911 – ca. 1920)

- Indigene und die neue Politik des Indian New Deal (1917 – 1944)

- Indianische Migration in US-amerikanische Großstädte und die „Terminations“-Politik (1944 – 1970)

- Die Red-Power-Bewegung (1961 – 1978)

- Eine neue Beziehung zwischen den USA und indigenen Nationen? (1968 – 2019).

Abgerundet wird der Band durch zwei Karten, Anmerkungen und Literaturhinweise –bezeichnenderweise zitiert die Autorin fast nur englischsprachige Fachliteratur – und einem umfassenden Register.

Heike Bungert hat mit diesem Buch eine kompetente Darstellung auf dem neuesten Stand der Forschung geschrieben, die weit entfernt ist von romantischen Klischees und stattdessen die aktive Rolle der Indigenen berücksichtigt. Berühmte Helden oder die immer wieder hervorgehobenen Schlachten und Massaker werden kurz und undramatisch in ihren historischen Zusammenhang gestellt. Dem C.H. Beck-Verlag kommt damit der Verdienst zu, endlich auch in Deutschland ein Indianerbuch veröffentlicht zu haben, das sich sachlich der indigenen Geschichte bis in die heutige Zeit widmet!