Delia Owens, Der Gesang der Flusskrebse


Delia Owens, Der Gesang der Flusskrebse
Übersetzt von: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Originaltitel : Where the Crawdads Sing
ISBN-13 : 978-3446264199
Geb. Ausgabe : 464 Seiten
Hanser Literaturverlage (hanserblau), 2019

 

Dies ist ein Buch, dass man so schnell nicht aus der Hand legt, einer der besten Romane, den ich in letzter Zeit gelesen habe! »Der Gesang der Flusskrebse« erschien im Sommer 2019 bei Hanser, bereits ein Jahr früher bei Penguin Random House unter dem Titel »Where the Crawdads Sing«. Er stand 2019 mehrere Wochen lang auf der New York Times-Bestsellerliste und in Deutschland 42 Wochen lang auf der Spiegel-Bestsellerliste. Es ist eine Kriminalgeschichte und Entwicklungsroman, Naturbeschreibung und Poesie in einem. 

Delia Owens (*1949 in Georgia/USA), ist Wildbiologin und Zoologin und lebte mit ihrem Mann lange Zeit in Afrika. Das erklärt auch früher erschienene Titel wie »Cry of the Kahahari« oder »The Eye of the Elephant«. »Where the Crawdads Sing« ist der erste Roman von Owens. Sie lebt mittlerweile auf einer Ranch in Idaho, ist jedoch auch immer noch in Sambia aktiv. Als Kind verbrachte die Autorin viele Sommerurlaube mit ihren Eltern in North Carolina, wo auch ihr Romandebüt spielt.

 

Alleingelassen im Sumpf  

Eine gezeichnete Karte vorn im Buch gibt Orientierung, zeigt die Schauplätze, an denen sich die Story abspielt: die Reading Cabin, Point Beach, Jumpin’s Bait & Gas oder der Fire Tower. Der Text gliedert sich dann in zwei große Teile: The Marsh und The Swamp, wobei die Autorin selbst feststellt: »Marsh is not swamp. Marsh is a space of light, where grass grows in the water, and water flows into the sky«. 

Das Buch beginnt mit einem Leichenfund am 30. Oktober 1969 im beschaulich-konservativen Küstenort Barkley Cove. Von da an springt das Geschehen immer wieder hin und her zwischen den Ermittlungen um den Toten, einem gewissen Chase Andrews, und der Geschichte von Miss Catherine Danielle Clark, am 10. 10. 1945 geboren, wie es in einer alten Familienbibel verzeichnet ist. Die Erzählung über »Kya«, wie sie kurz genannt wird, beginnt 1952 mit der Flucht der Mutter aus den Fängen eines trinkenden, prügelnden Vaters, ein Kriegsveteran. Sie lässt die Kinder zurück, obwohl Kya überzeugt ist, dass »The mama deer always come back«. Dies bewahrheitet sich jedoch nicht, doch, wie sich später herausstellt, leidet die malende Mutter mit pinkem Nagellack und schönen Kleidern in New Orleans und versucht vergeblich ihre Kinder zu sich zu holen. Ihr Mann, Kyas Vater, verweigert es ihr. 

Bald gehen auch die älteren Geschwister weg, Bruder Jodie als letzter, und Kya, die mit sechs Jahren Jüngste, ist dem Vater ausgeliefert. Sie bemüht sich, ihm gefällig zu sein und entdeckt auch gute Seiten an ihm, wenn er nüchtern ist und ihr z.B. Bootsfahren und Fischen beibringt. Doch bald schon, kehrt auch er immer seltener nach Hause zurück und Kya ist verstärkt auf sich gestellt. 1952 geht sie für einen Tag in die Schule, und trifft eines Tages, als sie heimlich das Boot des Vaters ausgeliehen hat, auf Tate Walker, einem früheren Freund des Bruders.

Die Einzigen, denen sich Kya, inzwischen zehnjährig und allein im Marschland mit seinen Salzwiesen und Sandbänken lebend, anvertraut, und die ihr helfen, sind der schwarze Shop- und Tankstellenbetreiber »Jumpin’« und seine Frau Mabel. An Jumpin’ verkauft Kya die nachts am Strand gesammelten Muscheln, und später andere Produkte wie Räucherfisch. Mabel gibt ihr Kleidung und hilft in Notlagen. 

Auch Tate taucht immer häufiger in ihrem Leben auf. 1960 beginnt Kya Federn und Muscheln zu sammeln und tauscht sie, zunächst heimlich, mit Tate. Als er merkt, dass sie nicht lesen kann, erteilt er ihr Unterricht im »Reading Shack«, einer verfallenen Hütte, die niemand kennt. Sie entwickelt Ehrgeiz und eine intensive Freundschaft mit Tate nimmt ihren Lauf. Er, ebenfalls Einzelgänger und an Biologie, Flora und Fauna interessiert, geht dann jedoch zum Studieren weg, was Kya fast das Herz bricht. Sie ist furchtbar enttäuscht und stürzt sich ins Studium von Biologiebüchern, beobachtet Vögel und beginnt verstärkt und methodisch eine Sammlung aufzubauen.

 

Falsche Versprechungen und wahre Liebe 

Teil 2 beginnt 1965, Kya, jetzt 19, hat sich zur wilden Schönheit entwickelt und lernt Chase Andrews kennen, der sie zunächst hofiert und ihr große Versprechungen macht. Aus Wohlstand und Ehe wird jedoch nichts, Tate warnt sie rechtzeitig, als er zu Besuch kommt und Teile ihrer Sammlung ausleiht um sie einem Wissenschaftler zu präsentieren. Es soll dauern, bis der ebenfalls leidende Tate ihr Herz zurückerobert, zunächst kommt jedoch 1967 der Bruch mit Chase, der sich heimlich verlobt hat. 

1968 erscheint Kyas erstes Buch »Thed Sea Shells of the Eastern Seaboard« und damit gelangt das "Marsh Girl" zu etwas Geld und Ruhm. Tate holt sich sein Exemplar mit der Widmung »To the Feather Boy From the Marsh Girl« ab. Im selben Winter kehrt auch Bruder Jodie, Vietnam-Veteran mit Studienabschluss, zurück und erzählt ihr von der inzwischen verstorbenen Mutter. Auf einem der Gemälde von ihr, die Jodie mitbringt, erfährt sie auch von Tate, der sie als Kind vor aggressivem Vater gerettet hat.

1969 folgt die zweite Buchveröffentlichung, »The Eastern Seacoast Birds«, im selben Jahr passiert das Unglück und die für Viele undurchschaubare, nicht angepasste, wilde Kya gerät – obwohl zum betreffenden Zeitpunkt bei ihrem Verlag in Greenville – unter Verdacht. Es ist bekannt geworden, dass sie einen Vergewaltigungsversuch des verheirateten, aber stets untreuen Chase gerade noch abwehren konnte und deshalb möglicherweise auf Rache aus war. 

Der ausführlich geschilderte Prozess 1970 findet im Beisein aller Getreuen von Kya statt – Tate, Jodie, Jumpin’ und Mabel, sowie Scupper, dem Vater von Tate. Kya wird dank eines engagierten Verteidigers von der Jury frei gesprochen und lebt schließlich mit Tate, ebenfalls Forscher, glücklich in der »Wildnis« zusammen, sammelt und publiziert. Erst bei ihrem frühen Tod, 64-jährig, stößt Tate auf ihre wahren Geheimnisse. 

Delia Owens erzählt intensiv und atmosphärisch von einem Leben in der Natur, von gesellschaftlichen Zwängen und Vorurteilen, Freundschaften, Vertrauen und Betrug. Bis zum Schluss und trotz des erwarteten Happy Ends, gelingt es ihr, die Spannung zu halten - mit etwas unerwarteten Enthüllungen am Ende!

Alexander von Humboldt

H. Walter Lack, Alexander von Humboldt und die botanische Erforschung Amerikas
Prestel-Verlag (München) 2018, 280 Seiten, 142 farbige Abbildungen, 82 Farbtafeln
ISBN: 978-3-7913-8414-6, 49,95 €

Ottmar Ette & Julia Maier, Alexander von Humboldt – Bilder-Welten. Die Zeichnungen aus den Amerikanischen Reisetagebüchern
Prestel-Verlag (München) 2018. Prachtband im Schmuckschuber, gebunden, mit Lesebändchen, 736 Seiten, 600 farbige Abb.
ISBN: 978-3-7913-8312-5, 148 €


Beide Buchcover und Fotos Tagebucheinträge ©Prestel Verlag
Porträt Humboldt: Wikimedia Commons




„Brüder im Geiste“
Am 19. Mai 1804 betrat Friedrich Wilhelm Heinrich Alexander von Humboldt (1769–1859) am Ende seiner amerikanischen Forschungsreise in Philadelphia erstmals nordamerikanischen Boden. Damals hatte eine für die damals noch jungen USA wegweisende Expedition gerade begonnen: Wenige Tage zuvor, am 14. Mai, war das sog. Corps of Discovery von St. Louis in Richtung Nordwesten aufgebrochen. Die beiden Offiziere Meriwether Lewis und William Clark sollten mit ihrem Expeditionscorps nicht nur das 1803 vom französischen Kaiser Napoleon erworbene bis dato weitgehend unbekannte Land westlich des Mississippi in Besitz nehmen, sondern zugleich im Auftrag des damaligen US-Präsidenten Thomas Jefferson das Land erforschen und dokumentieren.

Humboldt hatte ursprünglich keinen längeren Aufenthalt in Amerika geplant, doch in US-Präsident Thomas Jefferson fand er einen „Bruder im Geiste“. So blieb der Deutsche nicht nur bis Anfang Juli in den USA, er war zudem drei Wochen lang Gast des Präsidenten in Washington D.C. und auf dessen Wohnsitz in Monticello in Virginia (Foto). Der Universalforscher Humboldt und der Privatgelehrte und Mitbegründer der modernen Demokratie Jefferson sollen sich stundenlang unterhalten haben. „Mit ganzer Hingabe“ hätte Jefferson Humboldts Ausführungen über seine von 1799 bis 1804 dauernde Amerikareise zugehört – so berichtet Jeffersons Sekretär William A. Burwell. Und auch Humboldt muss von Jefferson begeistert gewesen sein – die Beiden korrespondierten bis zu Jeffersons Tod, 1826, und tauschten sich über naturwissenschaftliche Themen, Geografie und Tagespolitik aus.

Humboldt, der Botaniker

Alexander von Humboldt ist der wohl universellste Forscher, den die Wissenschaft bis heute hervorgebracht hat. Dass er ungeachtet seiner vielseitigen Interessen jede einzelne Studie mit akribischer Sachkenntnis durchgeführt hat, beweist sein Beitrag zur Erfassung der lateinamerikanischen Pflanzenwelt. Anlässlich seines 250. Geburtstags im Jahr 2019 legte der Prestel-Verlag München zwei Bücher vor: einmal einen großformatigen Prachtband mit den besten botanischen Illustrationen aus Humboldts eindrucksvoller Sammlung, zum anderen einen Band im Schmuckschuber, in dem erstmals alle Zeichnungen und Skizzen aus Humboldts Tagebüchern von seiner großen Amerikaexpedition zusammengestellt sind.

Ersteres Buch, »Alexander von Humboldt und die botanische Erforschung Amerikas«, wurde von H. Walter Lack zusammengestellt, Professor an der FU Berlin, einst Direktor am Botanischen Garten und Botanischen Museum Berlin-Dahlem und zugleich Autor zahlreicher Bücher zur Geschichte der Botanik. Für das zweitgenannte, »Alexander von Humboldt – Bilder-Welten. Die Zeichnungen aus den Amerikanischen Reisetagebüchern« zeichnen Ottmar Ette und Julia Maier verantwortlich. Beide Bände ergänzen sich hervorragend und sind nicht nur für historisch oder botanisch interessierte Leser purer Lesegenuss sondern auch ein schönes Geschenk.

1799 war Humboldt zusammen mit dem französischen Botaniker und Arzt Aimé Bonpland nach Südamerika aufgebrochen. Erstmals kam ein Europäer nicht als Eroberer, sondern als Wissenschaftler. Der Band weist neben 82 großformatigen, farbigen Pflanzentafeln mit kurzen Beschreibungen – z.B. kommen Hypericum (Johanniskraut), Rosa canina (Hundsrose) und Dahlia (Dahlie) vor – einen informativen Einleitungsteil auf. Darin geht es nicht nur um den Forscher und seinen Begleiter, sondern auch die komplizierte Veröffentlichungsgeschichte der botanischen Ergebnisse. Herausragend ist die hervorragende Qualität der reproduzierten Bildtafeln. Der Band gewährt Einblick in den Pflanzenkosmos des amerikanischen Kontinents und belegt zudem die Bedeutung Humboldt für die Botanik.

Humboldts Bilder-Welten
Seinen unbändigen Enthusiasmus und die oft abenteuerlichen Umstände, unter denen Humboldt Pflanzen sammelte, spiegeln die Reisenotizen wider, die sich wie ein Abenteuerroman lesen. Auf der Forschungsreise von 1799 bis 1804 durch den Norden Südamerikas sowie Mittelamerika entstanden zahlreiche Tagebücher und die Zeichnungen und Skizzen sind in diesem zweiten, mit über 700 Seiten schwergewichtigen Prachtband vereint. Fast 4000 Seiten Papier hatte Humboldt mit detaillierten schriftlichen Ausführungen sowie Hunderten von Zeichnungen gefüllt, sie reichten von Tier- und Pflanzenskizzen bis zu geometrischen Studien. Nach Sachgebieten geordnet und mit Kommentaren sowie Tagebuchauszügen versehen, werden die Illustrationen im Originalformat in Faksimile-Qualität abgebildet.



Humboldt-Kenner Ottmar Ette, Professor für Romanistik an der Universität Potsdam, leitete auch das Forschungsprojekt zur Auswertung von Humboldts Amerikanischen Reisetagebüchern. In einer kurzen Einleitung befasst er sich mit der Reise Humboldts und seinen Reisetagebüchern und zeigt den Wissenschaftler als Kosmopoliten und Netzwerker. Julia Maier, Kunsthistorikerin und Romanistin, die über die Zeichnungen in Humboldts Amerikanischen Reisetagebüchern promovierte, erklärt anschließend die Vorgehensweise bei der Publikation der Materialfülle.

Wie beim ersten Band ist die Reproduktion vorzüglich, meist wurden die Seiten originalgroß abgebildet, sorgfältig transkribiert bzw. übersetzt und kommentiert. Am Ende wurden von den etwa 4000 Seiten der Tagebücher fast 450 in diesem Band abgebildet. Nicht nur für „Humboldtianer“ sind beide Bände ein Muss im Bücherregal, auch wer sich ausführlicher mit Amerika beschäftigen möchte, muss auf sie zurückgreifen.

Susan Neiman: Von den Deutschen lernen

Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können
Aus dem Englischen von Christiana Goldmann
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2020
576 Seiten, 28 Euro
ISBN-10: 3446265988
ISBN-13: 978-3446265981

Der Originaltitel dieses hochinteressanten, wenn auch nicht immer leicht lesbaren Buches von Susan Neiman lautet: „Learning from the Germans. Race and the Memory of Evil“. Angesichts des Selbstbewusstseins der Amerikaner und der USA stellt sich vorab die Frage: Inwiefern könnte denn Deutschland den USA als Vorbild dienen?

Amerikanische Jüdin in Berlin
Am Ende der über 500 Seiten Text ist es Susan Neiman gelungen, den deutschen und den amerikanischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit zu schildern und zu werten. Neimans frühe Karriere (geboren 1955 in Atlanta/Georgia) verlief nicht ganz geradlinig und nach Schulabbruch und etlichen Jobs studierte sie an die Harvard Universität Philosophie. 1986, nach der Promotion, folgte ein längerer Aufenthalt an der Freien Universität Berlin – wohlgemerkt, vor dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung. 1989 bis 1996 war Neiman Professorin an der Yale University in New Haven/Connecticut, danach für fünf Jahre an der Universität Tel Aviv.
Als sie im Jahr 2000 die Leitung des Einstein Forums in Potsdam übernahm, wurde ihre Entscheidung, als Jüdin nach Berlin zu ziehen, in Freundeskreisen mit großem Unverständis quittiert. Doch die Frau des verstorbenen Wiener Psychoanalytikers Felix de Mendelssohn (1944-2016) ging ihren Weg und lebt heute in Berlin-Neukölln.

Holocaust – Sklaverei
Neiman befasst sich zunächst damit, wie sich die Deutschen mit ihren eigenen Verbrechen auseinandersetzen (auf dem Foto das Holocaust Memorial in Berlin), und vergleicht diesbezüglich – was eher ungewöhnlich ist – auch Osten und Westen miteinander. Die deutsche Erinnerungskultur und der Umgang mit dem Holocaust stehen auf der einen Seite, Rassismus und die Aufarbeitung der Sklaverei in den USA auf der anderen.

Gegebenheiten und Verhaltensweisen vergleicht die Autorin auf ihre eigene, überhaupt nicht trocken-wissenschaftliche Weise. Sie setzt auf eine Mischung aus wissenschaftlicher Analyse, historischen Fakten und Anekdoten, Betrachtungen und Interviews, Begegnungen und Reflexionen. In Deutschland lässt sie Juden zu Wort kommen und journalistische Passagen wechseln sich ab mit argumentativen. Ihre Interviewpartner – z.B. die Arendt-Expertin Bettina Stangneth, Jan Philipp Reemtsma (Organisator der Wehrmachtsausstellungen) und Cilly Kugelmann (Jüdisches Museum Berlin) – tragen dazu bei, dass Neiman ein neues Genre einführt: das der intellektuellen Non-Fiction.

Brilliant ist Susan Neiman vor allem dann, wenn es um die Situation und Beschreibung des amerikanischen Rassismus geht. Das Massaker von Charleston 2015, bei dem ein Weißer neun Afroamerikaner ermordet hat, war für sie Anlass, das Buch in Angriff zu nehmen. Als jüdische Amerikanerin, die in den Südstaaten aufgewachsen ist und seit 20 Jahren in Berlin lebt, kann sie sich durchaus ein Urteil darüber erlauben, in welchem Verhältnis die deutsche „Vergangenheitsaufarbeitung“ zur historischen Aufarbeitung von Rassismus und Sklaverei in den Vereinigten Staaten steht.

Gleichermaßen interessant – und anfechtbar – ist Neimans Beschäftigung mit den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Autorin bestreitet, dass es in der DDR keine selbstkritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gegeben hätte. Vielmehr sei im Osten die Haltung in Sachen Antifaschismus klarer gewesen als im Westen die Auseinandersetzung mit der Entnazifizierung. In den USA konstatiert Neiman hingegen schwere Versäumnisse. Ihrer Meinung herrschen dort bis heute Fehlinterpretationen und Lügen in der Darstellung der Sklaverei vor. Rassismus wird vielfach in den USA weiter verleugnet und Scham oder Schuldbewusstsein bzgl. geschehener Verbrechen gibt es kaum.

Täter und Opfer
Während eines Sabbaticals reiste Neiman nach Mississippi – zurück in die Südstaaten, wo sie aufgewachsen ist. Dort, wo schon immer das Erbe der Sklaverei omnipräsent und Rassismus Teil des Alltags ist, geht Neiman auf Spurensuche. Sie trifft Menschen und philosophiert über die Frage, wie eine Gesellschaft die eigene Geschichte verarbeiten kann.

Mississippi ist „schwarz“ und gleichzeitig „Trump Country“. Der „Lost Cause“, die Niederlage der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg, wo es dem Süden um den Erhalt der Sklaverei als Gesellschafts- und Wirtschaftsform ging, hängt noch immer nach. Im Zentrum von Neimans Ausführungen steht der Fall Emmett Till, ein 14-jähriger schwarzer Junge auf Familienbesuch aus Chicago, der 1955 von weißen Männern gelyncht worden war, weil er mit einer jungen weißen Frau gesprochen hatte.

Neiman stellt fest, dass sich die Geschichte des Rassismus fortsetzt, zumal in den USA seit jeher Weiß und Schwarz – historisch: Täter und Opfer – nebeneinander her, teilweise sogar miteinander leben. Ihre Argumente werden aktuell fast täglich von der Realität überholt: Black Lives Matter, der Sturz von Statuen vom Sockel und landesweite Proteste.

Deutsche Vergangenheitsaufarbeitung erfolgreich
Wie sollten Gesellschaften mit der eigenen Geschichte umgehen, wie mit dem verübten Unrecht? Für Neiman ist die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung am Ende eine Erfolgsgeschichte. „Vergangenheitsaufarbeitung“ – das Wort „Vergangenheitsbewältigung“ wird bewusst gemieden –, wurde nach Meinung Neimans in Deutschland mit Bravour bewältigt, wohingegen die USA bis dato überhaupt keine geleistet haben.

Sicher ist es mutig, Holocaust und Sklaverei gegenüberzustellen. Inwieweit die Vergangenheitsaufarbeitung in den USA und in Deutschland tatsächlich verglichen werden kann, soll am Ende jedoch jeder selbst entscheiden. Einen Denkanstoß dazu gibt das lesenswerte Buch allemal!