TORE ZUR WELT – HAFENSTÄDTE

 

Tore zur Welt – Hafenstädte: Laboratorien der Moderne 

Herausgegeben von Jörg Vögele, Luisa Rittershaus
Autor/en: Jörg Vögele, Luisa Rittershaus, Margrit Schulte Beerbühl, Nadine Borowietz, Loredana Fiorello
Buch (kartoniert), 232 Seiten, 35 farbige Illustrationen.
ISBN: 3868326405, Wienand Verlag & Medien Köln, 2021, 25 Euro

Der aufkommende Welthandel, Auswanderungswellen und immer größer werdende Dampfschiffe machten europäische Hafenstädte zu Knotenpunkten der frühen Globalisierung und zu Wegbereitern der Moderne. Auch alle Widersprüche dieser Epoche schienen sich hier zu manifestieren: Kommen und Gehen, Spass und Einsamkeit, Reichtum und Armut, modernste Technik und unqualifizierte Arbeit. Der Band beschäftigt sich anhand von Essays von Experten, z.B. Kunsthistoriker/inne/n und Sprachwissenschaftler/inne/n, mit den unterschiedlichsten interessanten Aspekten von Hafenstädten und Seefahrt. 




Mystischer Klang, harte Realität

Amsterdam, Hamburg, Liverpool, Marseille, Genua, Piräus, Odessa oder Honolulu (Foto rechts) - Hafenstädten wohnt noch immer ein mystischer Klang inne. Sie werden bis heute mit Handel, Schiffsverkehr, Auswanderung und Fernweh in Verbindung gebracht. Die Haupt- und Prachtstraßen – ob Reeperbahn, Tiger Bay oder Paradise Street – übten magische Anziehungskraft aus. Zum Hafen gehör(t)en Exotik und Erotik, Anrüchiges wie Glücksspiele, Tätowierungen, Schmuggel, Alkohol und Promiskuität der Matrosen. Hier trafen Alt und Neu, Abschied und Ankunft, ethnische Vielfalt und kosmopolitischer Charakter, Prostituierte und Matrosen, Seemannskneipen und Bordelle aufeinander. Ein babylonisches Sprachengewirr – jedoch strikt getrennte Wohnviertel der einzelnen Ethnien – sorgten für internationales Flair und Exotik und diese Atmospähre faszinierte Tourist/innen ebenso wie Künstler/innen, Schriftsteller/innen und Musiker/innen.  Und um diese geht es hier auch.


In dem von Paulina Rauh mit witzigen Zeichnungen versehenen Band, der im Wienand Verlag in Köln im Frühjahr 2021 erschienen ist,  herausgegeben von Jörg Vögele und Luisa Rittershaus, geht es um die Welt der Hafenstädte während ihrer Blütezeit im 19. und frühen 20. Jh. Eine breite Palette an Themen, z.B. »Frauen im Hafen« »Seemannstattoos«, »Seemännisch für Landratten«, der Schmuggel im Zeitalter Napoleons, »Seestücke« (Malerei) und die Rolle von Hafenstädten in Film, Musik und Literatur kommt da zur Sprache. Man wird an die Titanic, an Lilly Marleen, an Tango in den Seemannskneipen oder Goethes Italienische Reise und Venedig erinnert. Im Kapitel über Seemannsgarn, Kesselklopfersprache und andere Geheimsprachen wird klar, woher beispielsweise die Begriffe » klar Schiff machen«, oder »im selben Boot sitzen« kommen.

                                                  Häfen Seattle/WA und Galveston/TX

Die Liebe der Matrosen

Prostituierte gehören untrennbar zum Hafen, aber nicht nur sie. Von den »Staumädchen«, die die Ladung an Bord verstauten, bis hin zu »Domestic Service« und Kaffee-Sortiererinnen in den Lagerhallen – es wird vor allem deutlich, dass Frauen wichtige Fadenzieherinnen im  maritimen Alltag waren. Und das, obwohl es bis in die 1950er-Jahre dauern sollte, ehe Frauen erstmals als Funkerinnen anheuern durften. Bis die erste Frau ein Schiff steuerte, vergingen noch viele weitere Jahre.

Von Geschlechtskrankheiten über Homosexualität bis Sadismus unter der Besatzung, zwischen Einsamkeit und praller Lebenslust – die Seefahrt war eigen und Matrosen eine ganz besondere Spezies! Seemannstattoos – unterschiedliche Motive, die sich die Seemänner als Reisesouvenir, v.a. in Hafenstädten, stechen ließen sind ein weiteres Thema. Wie ernährten sich die Matrosen, welche Rolle spielte der Hamburger Fischmarkt, wie stand es um Genussmittel wie Kaffee, Alkohol und Tabakwaren – all das sind interessante Aspekte in dem Buch.

 
Foto links: The Kissing Sailor (San Diego/CA)

 

 

Hoffnungsvoll gen Westen

Auswanderer nutzten die Hafenstädte als Durchgangsstation: Von den 5,5 Mio. Emigranten, die zwischen 1819 und 1859 in die USA und nach Kanada fuhren, wanderten beispielsweise zwei Drittel über Liverpool aus. Auf transatlantischen Passagierschiffen gingen die Menschen oft auf wochen- oder  sogar monatelange Reise. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderte ein Großteil der Auswanderer aus West- und Nordeuropa über die Hafenstädte Antwerpen, Le Havre, Liverpool und Rotterdam in die Vereinigten Staaten aus. Vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg in den 1860ern waren die Hafenstädte Baltimore, Boston, New Orleans und Philadelphia wichtigste Einwanderungshäfen. 


Im Verlauf des 19. Jahrhunderts und mit steigender Attraktivität des dünner besiedelten Westen wurde New York City zum wichtigsten Anlaufpunkt. Zwar hatte es schon 1818 eine erste fahrplanmäßige Route Liverpool-New York City (Black Ball Line) gegeben, doch mit der Fertigstellung des Eriekanals 1825 expandierte der Hafen. Dampf- und Segelschiffe fuhren Ellis Island jedoch nicht direkt an, sondern legten an den Pieren des Hudson oder des East River an. Die Passagiere der 3. Klasse wurden von dort mit Fähren nach Ellis Island (siehe Fotos oben) gebracht um sie  medizinisch zu untersuchen und ihre Papiere zu kontrollieren, die in den besseren Klassen konnten gleich an Land gehen.

Paulina Rauh, freiberufliche Illustratorin hat den Band analog, mit Tuschestift und Aquarell, bebildert. Auch in die Gestaltung des Layouts sind analoge Techniken eingeflossen: Titel sowie Seitenzahlen sind händisch gestempelt. Das Buch endet mit einem Anmerkungsteil und mit der Vorstellung der Autor/inn/en. Alles in allem ein inhaltlich hochinteressanter und schön gestalteter Band zum Thema Hafen, Seefahrt … und zu vielen anderen Seitenaspekten. 

Queen Mary II.



Hillbilly-Elegie von J.D. Vance


J.D. Vance,

Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise

Ullstein Verlag, Berlin 2017
ISBN 9783550050084
Gebunden, 304 Seiten, 22 Euro
Originaltitel: Hillbilly Elegy: A Memoir of a Family and Culture in Crisis (Harper & Row, 2016)

Das 2016 in den USA erschienene Buch »Hillbilly Elegy« ist mehr als ein ein trauriger Lobgesang auf die »Hinterwäldler«: ein Familien- und Erziehungsroman, eine Autobiografie, eine Sozialreportage, ein Sachbuch, und nicht zuletzt eine  Informationsquelle über US-Marines und Eliteuniversitäten. Hauptschauplätze des Buches von J.D. Vance sind Ohio und die Appalachen in Kentucky, ein bewaldetes Mittelgebirge im Osten Nordamerikas, das sich über eine Länge von 2400 km von Neufundland in Kanada bis in den Norden des US-Bundesstaates Alabama erstreckt. Die meisten Menschen, die hier lebten, sind weiß, arm, religiös und einfache Gemüter – bei Bedarf auch gewaltbereit: Hillbillies, Hinterwäldler.

In dem Buch geht um eine gespaltene Gesellschaft, um ein schonungsloses Milieu, die der anfangs 12-Jährige James Donald, kurz »J.D.«, im Gerichtssaal, wo es (wieder mal) um sein Sorgerecht geht, beschreibt. So beginnt das Buch, es endet mit J.D. als strahlender Absolvent der renommierten Yale University Law School.  Erzählt wird – aus der Perspektive dieses jüngsten Sohnes – die Geschichte einer Familie, genauer gesagt, von drei Generationen, bei denen die Großeltern, wie viele andere Arbeits- und Glückssuchende, von Kentucky nach Ohio gezogen sind, um dort den amerikanischen Traum zu realisieren. Sie gelten als »Hillbillies«, sind weiße Fabrikarbeiter, Unterschicht, die in der allmählich niedergehenden Stahlindustrie schuften und dennoch dem Teufelskreis von Armut und Abhängigkeit nur in seltenen Fällen entkommen.

 

Von Kentucky nach Ohio – die »Hill People«

J.D. Vance (geboren 1984) hat seinen Jura-Abschluss in Yale gemacht und ist heute ein erfolgreicher Kapitalmanager und Schriftsteller. Er wuchs in der Industriestadt Middletown, im sog. Rust Belt von Ohio auf, seine Vorfahren stammen aus Jackson, Kentucky, wohin er auch immer wieder zurückkehrt. Die Familiengeschichte beginnt im Nachkriegsamerika, als seine Großeltern – »Mamaw« und »Papaw« – nach Ohio umziehen. Dort beginnt der Großvater in einer Stahlfabrik in Middletown zu arbeiten. Auch am neuen Wohnort bleiben die »Hill People« unter sich. Papaw kauft ein Haus und bemüht sich um den sozialen Aufstieg seiner Familie, zugleich ist er aber Alkoholiker und zu Hause herrschten raue Sitten.

Vances Mutter Beverly ist bei ihrem Highschool-Abschluss, als Zweitbeste ihrer Klasse!, bereits schwanger. J.D. Vance verbringt viel Zeit bei den Großeltern, vor allem bei der Großmutter, da die Mutter eher Drogen und wechselnden Männern zugewandt ist als der Erziehung des Sohnes und seiner älteren Schwester Lindsay. J.D’s leiblicher Vater hatte den Jungen zudem zur Adoption freigegeben. Lindsay kümmert sich neben den Großeltern um J.D., was die Geschwister zu Verbündeten macht gegen die Mutter, die einerseits ihre Kinder bedroht und andererseits um Hilfe bettelt. Beispielsweise um Urinproben, die verhindern sollen, dass sie wieder einmal einen Arbeitsplatz verliert.

Die Großmutter, »Mamaw«, bei der J.D. die letzten Jahre vor seinem High-School-Abschluss verbringt, gibt ihm Halt und bringt ihn nach einigem Auf und Ab auf die richtige Bahn. Trotz guten Highschool-Abschlusses entscheidet sich dann der noch unsichere Junge jedoch, zu den U.S. Marines zu gehen, zur Eliteeinheit des amerikanischen Militärs. Der dortige harte Schliff über vier Jahre gibt seinem Leben Struktur, ist Charakterschulung, verhilft ihm zu Durchsetzungsvermögen und Disziplin, und dazu, endlich an sich selbst zu glauben – Irak-Einsatz und Patriotismus inklusive. Zugleich gibt die Schilderung dieser Zeit dem Leser einen guten Einblick in das Training bei den Marines, das mit unserer Bundeswehr oder selbst mit der Ausbildung in anderen US-Militärabteilungen wenig zu tun hat.

Aufstieg mit Hindernissen

Denselben hohen Informationsgehalt haben übrigens Vances Ausführungen im letzten Buchdrittel über seine Aufnahme und seinen Werdegang an der renommierten Yale University in New Haven/ Connecticut, wo er Jura studiert. Interessant für den Leser: Selbst eine Ivy League-School wie diese, ist mithilfe von Unterstützungsprogrammen und Stipendien bei entsprechender Leistung durchaus auch für Leute der unteren Schichten zugänglich – selbst wenn diese weiterhin Außenseiter bleiben. Denn als solcher fühlt sich Vance stets, wenn er damit hadert, wie gekleidet er zum Interview erscheinen soll oder welches Besteck beim großen Dinner wozu dient.

J.D. erzählt eine Aufsteigergeschichte, allerdings eine mühsame. Am Schluss gelingt es ihm, der Gewalt – physisch wie verbal –, den Unberechenbarkeiten, Umzügen, Wirrungen und Vorbelastungen seiner Familie zu entkommen, wie er sie gegen Ende des Buches mit seiner Freundin und späteren Frau Usha analysiert. Im letzten Viertel des Romans geht es auch um die Schuldfrage, vor allem im Hinblick auf das Scheitern der Mutter, und um Einblicke in die Psyche der Hillbillies. 


Vance verzichtet bei seiner Analyse auf Pathos und Vorurteile und ist der Meinung, dass die Leute selbst an ihrem Schicksal Mitschuld tragen. Mangelnde Bildung, fehlender Ehrgeiz und Unaufgeklärtheit sieht er als Hauptursachen für die Situation der »Ewig-Abgehängten«. So staut sich Frust auf, Pessimismus grassiert und Initiativlosigkeit ist verbreitet. 

Viele Amerikaner sprechen auch von »Rednecks« oder »White Trash« und diese Gesellschaftsgruppe war es auch, die einst Trump gewählt hat. Dementsprechend handelt es sich bei »Hillbilly Elegy« nicht nur um eine Familiengeschichte, sondern auch um eine sozio-ökonomische Analyse, die das Buch in den USA gerade während Trumps Amtszeit zum Bestseller machte. Denn Vance weiß, dass heute „viele europäische Länder den amerikanischen Traum besser verwirklichen als Amerika“.

Inzwischen wurde das Buch von Ron Howard für Netflix verfilmt und 2017 erschien der Roman in der deutschen Übersetzung von Gregor Hens im Ullstein-Verlag.

 

©Text & Fotos: MB



Die Fuggerei: 500 Jahre sozialer Wohnungsbau

 



Die Fuggerei. Familie, Stiftung und Zuhause seit 1521

Hsg. Astrid Gabler

Hanser Corporate im Carl Hanser Verlag, München 2020

192 Seiten, fest gebunden, ISBN 978-3-446-26351-2

22,00 € (D), 22,70 € (AU)

 

 

„Ich, Jakob Fugger, Bürger zu Augsburg, bekenne mit diesem Brief, (...) der armen Leute Häuser am Kappenzipfel als Stiftung zu vollenden und die Nachfahren auf ewig mit der Vollstreckung zu verpflichten.“

 

Mit diesen Worten beginnt der am 23. August 1521 von Jacob Fugger – auch im Namen seiner damals schon verstorbenen beiden Brüder Ulrich und Georg – unterzeichnete Stiftungsbrief, der den Grundstein für die älteste, bis heute bewohnte Sozialsiedlung der Welt gelegt hat. Seit 500 Jahren ist die „Fuckerey“, wie sie damals hieß, eine ummauerte Stadt in der Stadt – mit drei Einlasstoren, Kirche, romantischen Gassen und kleinen Häuschen mit Gärten – und eine der Top-Touristenattraktionen Augsburgs.

 

Begehrte Mietwohnungen 

 

Die Fuggerei ist ein fortdauernder, zeitloser Modellversuch, der zwischen 1516 und 1523 ins Leben gerufen wurde. Als Wohnsiedlung für bedürftige Augsburger Bürger, v.a. Handwerker und Taglöhner, wurde sie nach Plänen von Baumeister Thomas Krebs errichtet und durch die Urkunde von Jakob Fugger „dem Reichen“ von 1521 in die „ewige“ Obhut der von ihm geschaffenen Stiftung gelegt. Die Fuggerei gehört also weder den Fuggern privat, noch der Stadt Augsburg.

 



Architektonisch handelt es sich um zweigeschossige Reihenhäuschen auf standardisierten Grundrissen mit meist je zwei kleinen Wohnungen, jeweils mit separatem Eingang, insgesamt 140 in 67 Gebäuden. Ausgestattet mit Küche, Wohnstube, Kammer und Schlafstube waren sie für die Entstehungszeit großzügig geplant und modern ausgestattet – eine historische Wohnung ist im Museum in der Mittleren Gasse unzerstört erhalten; im Vergleich dazu sind auch Räume und Flur einer modernen Wohnung zu sehen. 

 

Die Grundmiete von 1 Rheinischen Gulden – was einem heutigen nominellen Gegenwert von 88 Cent entspricht – wurde beibehalten, dazu kommen natürlich noch die Nebenkosten. Mieter verpflichten sich außerdem, täglich drei Gebete für den Stifter und seine Familie  zu sprechen. Noch immer werden die Tore um 22 Uhr geschlossen, danach öffnet der Nachtwärter nur nach Hinterlegung einer „Sperrgebühr“.

 

Eine „ewige“ Einrichtung

 

Dieses soziale Wohnbauprojekt, ist ein viel besuchter Ort, bewohnt von „normalen Menschen“ und daher alles andere als ein „Musemsdorf“. Neben der Puppenkiste gilt die Fuggerei als die zweite Hauptattraktion Augsburgs. Die Fuggersche Stiftung hat daher zum 500. Geburtstag auch einen besonderen Bildband im Carl Hanser Verlag München auf den Markt gebracht hat. Es handelt sich um das erste Standardwerk zur Fuggerei, herausgegeben von Astrid Gabler unter Mitarbeit zahlreicher weiterer Autoren.

 


Der gut illustrierte und von langjährigen Kennern der Geschichte der Fugger verfasste Band liefert eine umfassende, profunde und anschauliche Darstellung der Einrichtung, deren soziales Engagement Tradition und Zukunft zugleich verkörpert. Die Geschichte der Familie Fugger und die Gründe, die eine der einflussreichsten Handelsdynastien des 16. Jahrhunderts zur Einrichtung einer Sozialsiedlung bewegten, werden ebenso in dem Band geschildert wie die Architektur, den Betrieb der Fuggerei, ihre Bewohner, Bewerbungsverfahren und Voraussetzungen für das Wohnen dort und dazu lebendige Eindrücke von Heute.

 

Rund 150 Menschen leben heute in der Fuggerei, pro Jahr werden drei bis zehn Wohnungen frei und die Warteliste ist lang. Als Kriterium für die Aufnahme gilt noch immer, dass sie „ohne eigenes Verschulden in Armut geraten, katholisch und wohnhaft in Augsburg sind“. Denn die Fuggerei ist kein Alterswohnsitz, sondern steht Bedürftigen offen. Derzeit ist etwa die Hälfte der Bewohner unter 66 Jahre alt, rund zwei Drittel sind weiblich. Wohl prominentester Bewohner war einst der Maurermeister Franz Mozart, der Urgroßvater des weltberühmten Komponisten. 

 

Bis heute wird die Sozialsiedlung nahezu ausschließlich aus dem Stiftungsvermögen (Forstwirtschaft und Immobilien) der drei Linien der Fugger-Familie – Fugger-Kirchberg, Fugger-Babenhausen und Fugger von Glött – finanziert.

 

Lesenswertes über die Fugger und darüber hinaus

 

Die Absolventin der Filmhochschule Astrid Gabler, die seit 2016  die Abteilungen Kommunikation und Programme der Fuggerschen Stiftungen leitet, hat als Herausgeberin viele Fachleute in das Projekt eingebunden: die Historiker Dr. Stefan Birkle, Franz Karg M.A. und Prof. Dr.  Dietmar Schiersner – alle für das Fugger-Archiv tätig –, die Historikerin Dr. Anke Sczesny und die Architekturhistorikerin Dr. Hilde Strobl.

 

Über die Entstehung der Siedlung, die Familiengeschichte und die historische Einordnung schreibt Prof. Schiersner in den beiden ersten Kapiteln, „Um 1500: Die Fugger, Augsburg und die weite Welt“ und „Schenken und Stiften – Frömmigkeit und Familie“. Interessant auch sein Aufsatz „Der Mietnachlass als soziale Innovation: Warum ein Rheinischer Gulden?“. Hilde Strobl untersucht in ihrem Aufsatz die Architektur der Fuggerei zwischen Tradition und Modernität, Franz Karg beschäftigt sich mit Veränderungen und Krisen der Siedlung und der Stiftungen im Laufe der Geschichte. 

 

Für Anke Sczesny steht der interessante Aspekt der Armenfürsorge und Armutsbewältigung bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zentrum und Stefan Birkle widmet sich in dem Abschnitt „Arbeiten für die Fuggerei“ den vielfältigen Aufgabenbereichen: von den Verwaltern und der Administration über die Baumeister und die Bedeutung der Forstwirtschaft für die Stiftung, bis hin zu den Handwerkern, die Kirche und den sozialen und medizinischen Dienst.

 

Ein Prachtband zum Geburtstag

 

Eine Großteil der Texte stammt von Sigrid Gribl, als selbstständige Texterin und Autorin seit 2014 auch als Beraterin für Texte und Inhalte für die Fuggerschen Stiftungen aktiv. Sie hat z.B. Texte über die Geschichte der Fuggerei von 1905–1945, über die Fuggerei-Bewohner oder das interessante Kapitel „Legenden, Fake News, Tatsachen zur Fuggerei“ verfasst.

 


Den gelungenen Abschluss des Bandes lieferte die mehrfach ausgezeichnete und in Leipzig lebende Schriftstellerin Anja Kampmann (u.a. „Wie hoch die Wasser steigen“ 2018 oder „Der Hund ist immer hungrig“ 2021, beide Carl Hanser Verlag, München). In „Möchten’s Pfannkuchen? Eine Einladung in die Fuggerei von heute“ schildert sie ihren dreitägigen Besuch in der Fuggerei und die Begegnungen mit den heute dort lebenden Menschen. Den Schluss bildet das Gedicht „Fuggerei“.

 

Es  ist ein Vergnügen und dazu informativ, in diesem Buch über die älteste Sozialsiedlung der Welt zu zu lesen, doch auch die Aufmachung und besonders die Bildauswahl, bei der die Menschen im Mittelpunkt stehen, machen den Band attraktiv und zu einem netten Geschenk. Es handelt sich um eine Mischung aus modernen und historischen Bildern, Grafiken und Texten, die den Anlass der Publikation, der Feier des 500. Geburtstags der Fuggerei, gebührend würdigen. Interessanter Lesestoff mit vielen Infos zur Geschichte der ältesten Sozialsiedlung der Welt und ein Buch, das man gerne immer wieder zur Hand nimmt.

 

Weitere Informationen:

www.fugger.de/fuggerei.html

www.augsburg-tourismus.de

M. Brinke – P. Kränzle, CityTrip Augsburg, Reise Know-HowVerlag, Bielefeld,

ISBN: 978-3-8317-3256-2, 144 Seiten, 4. Aufl. 2019

Fugger & Welser Museum Augsburg

 

© Text & Fotos: MB-PK


CALLAN WINK, BIG SKY COUNTRY


Callan Wink, Big Sky Country

Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer

Suhrkamp Verlag Berlin, 2021

Gebunden, 378 Seiten, 
ISBN: 978-3-518-42983-9, 23 €

Im Original erschienen unter dem Titel "August" (Random House).

 

„Big Sky Country“ ist der Spitzname des US-Bundesstaates Montana, 1962 als werbewirksamer Slogan vom Montana State Highway Department aufgebracht. Er bezieht sich auf den endlosen Horizont, die gigantische Weite der Landschaft Montanas. In dieser spielt ein guter Teil des  Debut-Roman des Amerikaners Callan Wink (*1984), der von Hannes Meyer ins Deutsche übersetzt wurde und kürzlich im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Wink ist ein junger, noch nicht allzu bekannter Autor. Er arbeitet im Sommer als Fly Fishing Guide auf dem Yellowstone River in Montana, im Winter lebt, surft und schreibt er im kalifornischen Santa Cruz. 2016 erschien bereits sein Erzählungsband „Dog Run Moon“ ("Der letzte beste Ort").



Fernab von Glitz und Glimmer

Schauplätze des Romans sind das ländliche Michigan und das dünn besiedelte Montana, weit weg von Glitz und Glimmer, von großstädtischem Leben und hoher Kultur.  Es handelt sich um einen sog. Bildungs- und Entwicklungsroman oder um eine »coming-of-age story« im ländlichen Amerika, im »Heartland« der USA. Wink begleitet seinen Protagonisten August – so auch der Titel der englischen Originalfassung – über einen Zeitraum von rund 13 Jahren, beginnend Ende der 1990er-Jahre, als er 12 Jahre alt war, bis zu einem Alter von Mitte 20.

 

Der 12-jährige August, »Augie« genannt, wächst auf einem Milchviehbetrieb in Michigan auf und verbringt seine Zeit vor allem mit Kühemelken, Heumachen, im Geräteschuppen, mit seinen Hunden oder beim Fischen. Auf Geheiß seines Vaters macht er sich daran, die sich übermäßig vermehrenden Katzen auf dem Hof zu töten. Für jeden abgelieferten Schwanz erhält er einen Dollar – so beginnt der Roman. Der Junge soll schließlich hart und ein richtiger Mann werden, dabei ist er in Realität eher ein Träumer mit wenig Emotionen, der lieber abhängt und beobachtend durch die Gegend streift. Konflikten geht er aus dem Weg, er prügelt sich nicht gern. 

 

 
Während Augie Katzen zur Strecke bringt, bröckelt die Ehe der Eltern. Vater Darwin – Wink wählt gerne bedeutungsträchtige Namen! – arbeitet hart und ist bodenständig, während die kettenrauchende Mutter Bonnie eher verträumt, esoterisch und etwas skurril wirkt. Sie hat „Gedankenwolken“ und geht den Pfad der Selbstvervollkommnung, fühlt sich benachteiligt und unterfordert. Der Vater nimmt sich die handfeste, zupackende, viel jüngere „Hilfsarbeiterin“ Lisa zur Geliebten; sie erfüllt eher seine Vorstellungen von einer Ehefrau. Bonnie ist ausgezogen, ins alte Farmhaus, während Vater und Freundin das neue Haus bewohnen. Der junge August pendelt zwischen Mutter und Vater, ist hin- und hergerissen.

 

Neustart im Big Sky Country Montana

Die eingereichte Scheidung veranlasst die Mutter mit August wegzuziehen, nach Montana – es ist ein langer, emotionsgeladener Roadtrip, der da geschildert wird. Sie findet Arbeit als Bibliothekarin in Livingston und man lebt in einem bescheidenen Haus, einem ehemaligen Bordell. Der Big Sky von Montana soll sie und August „befreien“ und zu sich kommen lassen. Dabei wirkt August zunächst recht antriebslos, er radelt über die endlosen Straßen Montanas und angelt an einsamen Flussufern. Es dauert, bis der schüchterne Junge Freundschaften schließt. Er beginnt American Football zu spielen, was zwar zu seiner Statur passt, wovon er jedoch regelmäßig Kopfweh bekommt. Er bemüht sich redlich, ein richtiger Mann zu werden und geht eine kurze Affäre mit einer älteren Nachbarin namens Julie ein, die zugleich enge Freundin der Mutter ist.

 

Nachdem diese Liebschaft jäh endet, zieht er P.B.R (Papst Blue Ribbon) und Pickup Trucks den Frauen und anderen Vergnügungen vor. Jungengespräche mit Bier und Whiskey am Lagerfeuer, die er gelegentlich mitmacht, sind fortan die einzige Abwechslung – neben den Telefongesprächen mit dem Vater (und später auch mit der Mutter), die sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen. Es sind triviale Gespräche, vor allem über das Wetter und die Landwirtschaft, übers Essen und den Fortschritt mit den Frauen. Der Vater versucht ihn immer wieder zu überzeugen, zurückzukehren, gibt vor, Hilfe zu brauchen und versteht nicht, wieso August für andere arbeitet, statt die eigene Farm zu übernehmen.

 

August wirkt unsicher und abgeklärt zugleich, jung und alt, dumm und klug. Er hängt am Landleben, liebt Natur und Landschaft, tut aber den ganzen Roman über wenig Signifikantes. Nach Beendigung der Highschool ist er unentschlossen, beobachtet, wie mehr und mehr seiner Freunde sich an einem College einschreiben oder sich in Folge der Anschläge des 11. September anwerben lassen und in den Krieg ziehen, nach Afghanistan, um den islamistischen Terror zu bekämpfen.

 

Schlüsselerlebnis mit Folgen

 

In Teil 2 des Buches kommt dann ein Freund Augusts, Ramsey, in eben diesem Krieg ums Leben, und wird als Held gefeiert. In seinem Angedenken findet eine Feier, oder eher ein Saufgelage, statt, dass mit einer Massenvergewaltigung endet, ein Schlüsselereignis für August, der weder aktiv daran beteiligt war, noch versucht hat, das Geschehene zu verhindern. Dabei hätte er gerne mit der Betroffenen, June, Freundschaft geschlossen. Der Drahtzieher der Aktion macht August das Leben schwer, doch dieser setzt sich ausnahmsweise einmal durch, beschließt aber nach der Begegnung, abzuhauen.

 

Er packt seine Sachen und landet auf der Virostok Ranch bei Ancient und Kim – sehr gegensätzlichen Charakteren. Diese abgelegene Ranch liegt in der Nähe einer Hutterer-Gemeinde, einer religiösen Gruppe, die hier mit allerhand Mythen und Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht wird. Tim Duncan wird Augusts neuer Freund, mit ihm zieht er nach hartem Arbeitstag durch Bars, besucht Rodeos und lernt auf dessen Geheiß widerwillig das Tanzen und die Regeln im Umgang mit Frauen. Als ein anderer Cowboy ihm seine Freundin Maya ausspannen will, prügelt er sich mit ihm, doch ansonsten prägen Lethargie, Alkohol, harte Arbeit mit Ancient auf der Ranch, und Begegnungen mit ein paar skurrilen männlichen Gestalten den Alltag. August ist genügsam.

 


Der letzte, dritte Teil beginnt mit einem Arbeitsunfall auf der Ranch, nach dem August zwei Finger amputiert werden müssen. Er kehrt zur Mutter zurück, die inzwischen vor einer neuerlichen Heirat steht. Tim kommt ihn besuchen und schenkt ihm zwei Hunde – der Kreis zum Kind »Augie« schließt sich – und August rechnet in einer Art Showdown mit dem Anstifter des damaligen Verbrechens an June ab.  Am Ende erfährt er, dass der Vater die Farm verkauft hat, um mit der schwangeren Lisa nach Traverse City zu ziehen. In der Abschlussszene nimmt August den alten Pickup und fährt weg, fast wie im Film, während die Eltern ihre beiden Stühle wieder näher aneinander rücken.

 

Unspektakulär, aber aussagekräftig

Insgesamt verläuft Augusts Leben ziemlich unspektakulär und ist der Roman höchst unaufgeregt. Wer auf Action und Spannung steht, kann auf Winks Roman verzichten. Es geht langsam voran, wobei das Erzähltalent von Callan Wink unumstritten ist. Seine Prosa lässt das Gras im Wind rhythmisch wogen und zeichnet Landschaftsbilder mit Wolken, Wind und Weite. Das Landleben wird mit Kühen und frisch gemolkene Milch, Maschinen und Motoröl zum Ereignis. Die ganze Geschichte zeichneten sich durch ihre Belanglosigkeit aus, durch emotionale Distanz und das Fehlen von Nostalgie oder Sentimentalität. Alles fließt dahin und im Zentrum steht der unaufgeregte Blick auf das Leben eines heranwachsenden Jungen zunächst auf einer Milchfarm in Michigan und dann in den Weiten Montanas.

 

© Text: MB

© Fotos: MB mit Ausnahme der Montana-Landschaft oben, © Montana Office of Tourism

DIE KRIMI-KOLUMNE

Heute möchte ich zur Abwechslung vier Krimis vorstellen, die allesamt von amerikanischen Autor(inn)en verfasst wurden und in den USA spielen. Zwei davon liegen auch in deutscher Übersetzung vor (Paretsky und Kellerman), die beiden anderen nur in Englisch.

 

Sara Paretsky, Fallout

V.I. Warshawski Series, Book 18 (2017, dt.: „Altlasten“)

 

Sara Paretsky ist eine Altmeisterin im Krimi-Genre und sie verzettelt sich auch nicht, wie viele ihrer Kollegen, mit zu vielen verschiedenen Serien. Ihre V.I. Warshawski-Reihe läuft seit 1982 und umfasst rund 20 Bände. 1986 gründete Paretsky  gemeinsam mit anderen Kriminal- und Thrillerautorinnen die Organisation Sistersin Crime. In Deutschland sind die Bücher großteils im Piper Verlag, zuletzt im Ariadne Verlag Hamburg erschienen.

 

Paretsky wuchs im US-Bundesstaat Kansas auf und studierte Politikwissenschaft an der Universität von Kansas in Lawrence. Dort spielt auch ihr „Stand-alone“-Roman „Bleeding Kansas“ von 2008 und dorthin kehrt sie in Krimi-Band 18 mit dem Titel, „Fallout“ (dtsch. „Altlasten“) zurück.

 

Hauptfigur ist V.I. (Victoria Iphigenia) Warshawski, die eine Privatdetektei in Chicago betreibt, Nebenfiguren sind ihre beiden Hunde, Peppy und Mitch, und ihr Nachbar Mr. Contreras, dazu die jüdische Ärztin Lotti und deren Mann Max. Zusammen mit Hund Peppy ist V.I. in „Fallout“ in Kansas unterwegs, auf der Suche nach einem verschwundenen afroamerikanischen Trainer und Filmemacher namens August Veriden, der aus unerklärlichen Gründen mit einem früheren schwarzen Filmstar namens Emerald Ferring abgetaucht ist. Warshawski folgt diversen Fährten in Kansas, vor allem in der College-Kleinstadt Lawrence, der Geburtsstadt von Ferring, und wirbelt dabei viel Staub auf, der nicht immer direkt mit dem Fall zu tun hat. Sie stößt auf Familienstreitigkeiten, Rassismus, alte unaufgeklärte Mordfälle, Bioterrorismus und andere Unwägbarkeiten. Der Krimi zeigt viele Facetten und wird nie langweilig.

 


Faye Kellerman, Walking Shadows

Peter Decker/Rina Lazarus Series, Book 25,

 (2019, dt.: „Erbsünde“)

 

Faye Kellerman, aus  St. Louis/Missouri stammend, ist mit dem Psychologen und Bestsellerautor Jonathan Kellerman verheiratet und lebt heute in Los Angeles. Einige Bände haben beide gemeinsam verfasst und auch Sohn Jesse schreibt. Kellerman ist bekennende orthodoxe Jüdin und entsprechend behandeln auch ihre meisten Romane Kriminalfälle im jüdisch-orthodoxen Milieu. Der anfangs in Kalifornien lebende Kommissar und Konvertit Peter Decker löst viele davon, in den neueren Bänden tatkräftig von seiner Frau Rina Lazarus, manchmal auch von Tocher Cindy, ebenfalls Polizistin, unterstützt. Die Kinder sind inzwischen aus dem Haus und das Paar ist mittlerweile in den vorgeblich ruhigeren Ort Greenbury/New York gezogen, da Decker, „semi-retired“, kürzer treten möchte.

 

In „Erbsünde“ (Walking Shadows) von 2019 geht es um einen für die ländliche Region in Upstate New York brutalen Mordfall. Ein junger Mann, Brady Neil, aus dem benachbarten Hamilton ist tot. Decker macht sich auf die Suche nach den Hintergründen, stößt auf einen Juwelendiebstahl mit Todesfolge und auf Unkorrektheiten in Polizeikreisen. Familienbande sind zu entwirren, eine junge Polizistin stellt sich erfolgreich gegen ihren Polizisten-Vater und bewährt sich, und Tyler McAdams, Deckers junger, altkluger Protegé sowie Rina unterstützen Decker bei der Wahrheitsfindung. Absolut gut konstruiert und überaus lesenswert bis zum Ende!

 

 


David Baldacci, Daylight

Atlee Pine Series, Book 3 (Engl., bis dato noch nicht übersetzt)

 

Ohne Vorteile schüren zu wollen, bei diesem und dem nächsten Krimi merkt man, dass er von Männern geschrieben wurde! Während es in den beiden zuvor empfohlenen Krimis vergleichsweise „beschaulich“ zugeht und Logik, Recherchetechniken und bodenständige Vernunft eine Rolle spielen, wird es bei Bestsellerautor Baldacci „handgreiflicher“ und zugleich „utopischer“.

 

David Baldacci war ein „jack-of-all-trades“ ehe er sich als Jurist dem Schreiben zuwandte. Heute sind seine Bücher in viele Sprachen übersetzt und liegt die Gesamtauflage weltweit bei über 40 Mio. Exemplaren. Sein erstes Werk „Der Präsident“ („Absolute Power“) wurde 1997 mit Clint Eastwood und Gene Hackman verfilmt und auch die Buchserie um die Protagonisten Sean King und Michelle Maxwell war gut für eine TV-Serie.

 

In seiner neuesten Reihe – neben Camel Club, King & Maxwell, Shaw & James, John Puller, Will Robie, Amos Decker – spielt Atlee Pine die Hauptrolle. In Band 3 der Atlee-Pine-Reihe agiert die FBI-Agentin zusammen mit John Puller, dem altbekannten erfahrenen Ermittler der Militärpolizei (Army). Während Pine zusammen mit der etwas betulichen Assistentin Carol Blum auf der Suche nach ihrer Zwillingsschwester ist und deren Kidnapper sucht, leitet John Puller am gleichen Ort Untersuchungen zu einem Drogenring in Militärkreisen. Bald schon ergeben sich Bindeglieder zwischen beiden Fällen und Puller und Pine ermitteln, teils unter Einsatz ihres Lebens, gemeinsam – und katapultieren sich in immer höhere Sphären. Die Demokratie und die nationale Sicherheit geraten ebenso in Gefahr wie das Ansehen des Militärs und am Ende hat Atlee ihre Schwester noch immer nicht gefunden. Wird allmählich Zeit!

 


Lee Child & Andrew Child, The Sentinel

A Jack Reacher Novel (Engl., noch nicht übersetzt)

 

John Puller (s. oben) und Jack Reacher, der Protagonist in Childs Kriminalromanen, haben viele Gemeinsamkeiten. Beide sind starke, unbesiegbare, unabhängige Männer, beide mit Militär-(Polizei)-Hintergrund. Wer zuerst kam (wohl Reacher) und wer der „Bessere“ ist, wird in Krimikreisen viel diskutiert. Reacher ist, wie frühen Bänden zu entnehmen war, nach 13-jähriger Dienstzeit mit 35 Jahren ehrenhaft als Major der US Army entlassen worden und hatte zuletzt eine Eliteeinheit der Militärpolizei geleitet. Er ist bekannt für seinen Gerechtigkeitssinn und dafür, Gut und Böse ohne Rücksicht auf Verluste zu trennen. Reachers Lebensstil ist ebenfalls ungewöhnlich: ohne festen Wohnsitz, mit Bussen oder per Anhalter unterwegs, ohne Gepäck (außer einer Zahnbürste) und ohne Beziehungen jeglicher Art führt er ein Dasein als Einzelgänger und ewig Umherziehender.

Reacher läuft auch in diesem Band, den Lee Child zusammen mit seinem Bruder Andrew verfasst hat (was man nicht unbedingt merkt) zu Hochform auf. Der gebürtige Brite Lee Child, der 1998 in die USA ausgewandert ist, heißt eigentlich James Dover Grant und zählt ebenfalls zu den meistverkauften und gelesenen Krimiautoren weltweit. Seine Reacher-Thriller kommen auf 60 Millionen Exemplare pro Auflage in fast 100 Ländern. Seine Bücher „Sniper“ und „Die Gejagten“ wurden mit Tom Cruise in der Hauptrolle verfilmt.

 

„The Sentinel“ ist die Nr. 25 in der Reihe und wurde im Oktober 2020 publiziert. Reacher strandet dieses Mal in einem Dorf bei Pleasantville, Tennessee. Er wird zu Anfang in einen Entführungs- bzw. Mordversuch verwickelt, der eigentlich einem anderen Mann gilt, nämlich dem IT Manager und Computerfreak Rusty Rutherford. Es geht im Folgenden um eine Cyberattacke, um Konspiration, um russische Spione, FBI und amerikanische Neonazis.

 

Reacher wird von einer früheren FBI-Agentin unterstützt, wirkt hier aber noch stärker als bisher aus der Zeit gefallen, schwerfällig im Umgang mit Mobiltelefonen, und ausgestattet mit Superman-Kräften. Von IT und Datenumgang scheint Reacher (und damit Child) nicht allzu viel zu verstehen, was man an manchen Details merkt. Die Handlung ist nicht immer ganz stringent, manchmal bewegt sie sich in zu abstrakten Sphären, aber dennoch handelt es sich um einen Thriller mit viel Action. Einschränkend muss gesagt werden, dass Jack Reacher mein absoluter männlicher Lieblingsprotagonist ist,  er mir aber allein, ohne Atlee, besser gefällt.

Jonathan Lethem, Motherless Brooklyn

 

 Jonathan Lethem, Motherless Brooklyn

Amerikan. Erstausgabe 1999: Knopf-Doubleday (Penguin Random House)

Deutsch u.a. bei Goldmann Verlag (2004), übersetzt von Michael Zöllner

Taschenbuch, 384 Seiten, ISBN-13 : 978-3442541874

 


Gleich vorweg: Die Rahmenhandlung ist ein Mord im Gangster- und Mafiosi-Milieu, in der Machart eines "Hard-Boiled Krimis" im Stil von Nero Wolfe oder Chester Himes. Es ist eine Hommage an Brooklyn/New York und es geht um eine
neuropsychiatrische Erkrankung namens Tourette-Syndrom (TS), die sich in sogenannten Tics – kuriose Wortäußerungen, repititive Handlungen oder Bewegungen – äußert. 

 

Hartgesottene Ganoven mit sanftem Gemüt

Der Autor von „Motherless Brooklyn“, Jonathan Lethem, stellt einen symphatischen Protagonisten und seine Zwangsneurosen in den Vordergrund: Lionel Essrog, der Erzähler des Romans, leidet unter dem Tourette-Syndrom, doch Mitleid oder Sentimentalität sind ihm fremd. Er fühlt sich „trapped like a rolling ocean under a calm floe of ice“ und begibt sich auf eine ständige Gratwanderung zwischen Selbstkontrolle und Kontrollverlust. Die gewisse Komik, die damit verbunden ist, ist Lionel gelegentlich aber auch nützlich, da man ihn nie ganz ernst nimmt. 

 

Lionel verbringt seine Kindheit in den 1970er-Jahren im Waisenhaus St. Vincents in Brooklyn, bis ein kleiner, aber großherziger und allseits respektierter Mafioso namens Frank Minna ihn und drei weitere Jungen erst für bestimmte Aufträge („Umzüge“), später dann dauerhaft aus dem Heim holt. Aus den vier Waisen werden die „Minna Men“, die unter dem Deckmantel eines Fahrservice Detektivdienste unter dem Firmenlabel „L&L“ anbieten. Alle vier - Lionel Essrog, Tony Vermonte, Gilbert Coney und der Afroamerikaner Danny Fantl - sind Detektive ohne Lizenz und werden als höchst unterschiedliche, sympathisch-unbeholfene Gestalten geschildert. 

 

„Freakshow“ ermittelt

Lionel, der unter seinen Tics leidet, als Sonderling gilt und „Crazyman“ oder „Freakshow“ genannt wird, schätzt seinen Chef Minna, der für ihn zur Vaterfigur geworden ist. Eines Nachts wird dieser jedoch nach Verlassen eines Zendo- (Buddhisten-) Zentrums niedergestochen und Lionel, der den Sterbenden noch ins Krankenhaus gebracht hat, leidet unter dem Verlust und sinnt nach Rache.


Er macht sich auf die Suche nach Franks Mörder und dringt immer tiefer in Brooklyns Unterwelt vor, wo anscheinend niemand der ist, als der er sich ausgibt, vor allem nicht Franks Bruder Gerard und seine Frau Julia oder die dubiosen Mafiosi-Auftraggeber Rockaforte und Matricardi, und auch nicht jene japanische Corporation, für die Frank ebenfalls arbeitet.


Gilbert Coney, Lionels bester Freund, ist zwischenzeitlich wegen Mordanklage an einem der japanischen Strippenzieher im Gefängnis gelandet und Kollege Tony Vermonte hofft, nach dem Tod von Minna dessen Position einnehmen zu können. Obwohl er Lionel verachtet und sich ständig über ihn lustig macht, versucht dieser ihn zu warnen. Tony wird jedoch vom „Giganten“ um die Ecke gebracht ehe Lionel diesen ausschalten kann und es quasi zum Showdown und zur Aufklärung des Falles mit Julia Minna kommt.

 


Vom Buch zum Film

 

Jonathan Lethem ist 1964 in Brooklyn geboren und wuchs nahe dem Gowanus Canal, in Boerum Hill, auf – ein Viertel, von dem er selbst sagt: „if you grew up in this neighborhood you became a cop or a criminal“. Als Sohn eines Malers und einer politischen Aktivistin studierte er ebenfalls erst Malerei, wandte sich dann aber der Literatur zu. Seine großen Erfolge feierte er mit zwei Romanen, die in eben jenem Stadtteil angesiedelt sind: „Motherless Brooklyn“ (1999) und „The Fortress of Solitude“ (2003). Lethem lebt inzwischen in Südkalifornien und hält eine Professur für Creative Writing inne.

 »Motherless Brooklyn« gibt es seit 2019 auch als Film. Der Autor selbst hatte sich schon 1999 an Edward Norton gewandt wegen der Verfilmung seines Romans. Erst fast zehn Jahre später kam dieser auf die Leinwand, die Premiere fand während des Telluride Film Festivals statt. Außer Regisseur und Drehbuchschreiber Norton selbst, spielen Willem Dafoe, Gugu Mbatha-Raw, Alec Baldwin und Bruce Willis Rollen.

© Text & Fotos: MB