Die Fuggerei: 500 Jahre sozialer Wohnungsbau

 



Die Fuggerei. Familie, Stiftung und Zuhause seit 1521

Hsg. Astrid Gabler

Hanser Corporate im Carl Hanser Verlag, München 2020

192 Seiten, fest gebunden, ISBN 978-3-446-26351-2

22,00 € (D), 22,70 € (AU)

 

 

„Ich, Jakob Fugger, Bürger zu Augsburg, bekenne mit diesem Brief, (...) der armen Leute Häuser am Kappenzipfel als Stiftung zu vollenden und die Nachfahren auf ewig mit der Vollstreckung zu verpflichten.“

 

Mit diesen Worten beginnt der am 23. August 1521 von Jacob Fugger – auch im Namen seiner damals schon verstorbenen beiden Brüder Ulrich und Georg – unterzeichnete Stiftungsbrief, der den Grundstein für die älteste, bis heute bewohnte Sozialsiedlung der Welt gelegt hat. Seit 500 Jahren ist die „Fuckerey“, wie sie damals hieß, eine ummauerte Stadt in der Stadt – mit drei Einlasstoren, Kirche, romantischen Gassen und kleinen Häuschen mit Gärten – und eine der Top-Touristenattraktionen Augsburgs.

 

Begehrte Mietwohnungen 

 

Die Fuggerei ist ein fortdauernder, zeitloser Modellversuch, der zwischen 1516 und 1523 ins Leben gerufen wurde. Als Wohnsiedlung für bedürftige Augsburger Bürger, v.a. Handwerker und Taglöhner, wurde sie nach Plänen von Baumeister Thomas Krebs errichtet und durch die Urkunde von Jakob Fugger „dem Reichen“ von 1521 in die „ewige“ Obhut der von ihm geschaffenen Stiftung gelegt. Die Fuggerei gehört also weder den Fuggern privat, noch der Stadt Augsburg.

 



Architektonisch handelt es sich um zweigeschossige Reihenhäuschen auf standardisierten Grundrissen mit meist je zwei kleinen Wohnungen, jeweils mit separatem Eingang, insgesamt 140 in 67 Gebäuden. Ausgestattet mit Küche, Wohnstube, Kammer und Schlafstube waren sie für die Entstehungszeit großzügig geplant und modern ausgestattet – eine historische Wohnung ist im Museum in der Mittleren Gasse unzerstört erhalten; im Vergleich dazu sind auch Räume und Flur einer modernen Wohnung zu sehen. 

 

Die Grundmiete von 1 Rheinischen Gulden – was einem heutigen nominellen Gegenwert von 88 Cent entspricht – wurde beibehalten, dazu kommen natürlich noch die Nebenkosten. Mieter verpflichten sich außerdem, täglich drei Gebete für den Stifter und seine Familie  zu sprechen. Noch immer werden die Tore um 22 Uhr geschlossen, danach öffnet der Nachtwärter nur nach Hinterlegung einer „Sperrgebühr“.

 

Eine „ewige“ Einrichtung

 

Dieses soziale Wohnbauprojekt, ist ein viel besuchter Ort, bewohnt von „normalen Menschen“ und daher alles andere als ein „Musemsdorf“. Neben der Puppenkiste gilt die Fuggerei als die zweite Hauptattraktion Augsburgs. Die Fuggersche Stiftung hat daher zum 500. Geburtstag auch einen besonderen Bildband im Carl Hanser Verlag München auf den Markt gebracht hat. Es handelt sich um das erste Standardwerk zur Fuggerei, herausgegeben von Astrid Gabler unter Mitarbeit zahlreicher weiterer Autoren.

 


Der gut illustrierte und von langjährigen Kennern der Geschichte der Fugger verfasste Band liefert eine umfassende, profunde und anschauliche Darstellung der Einrichtung, deren soziales Engagement Tradition und Zukunft zugleich verkörpert. Die Geschichte der Familie Fugger und die Gründe, die eine der einflussreichsten Handelsdynastien des 16. Jahrhunderts zur Einrichtung einer Sozialsiedlung bewegten, werden ebenso in dem Band geschildert wie die Architektur, den Betrieb der Fuggerei, ihre Bewohner, Bewerbungsverfahren und Voraussetzungen für das Wohnen dort und dazu lebendige Eindrücke von Heute.

 

Rund 150 Menschen leben heute in der Fuggerei, pro Jahr werden drei bis zehn Wohnungen frei und die Warteliste ist lang. Als Kriterium für die Aufnahme gilt noch immer, dass sie „ohne eigenes Verschulden in Armut geraten, katholisch und wohnhaft in Augsburg sind“. Denn die Fuggerei ist kein Alterswohnsitz, sondern steht Bedürftigen offen. Derzeit ist etwa die Hälfte der Bewohner unter 66 Jahre alt, rund zwei Drittel sind weiblich. Wohl prominentester Bewohner war einst der Maurermeister Franz Mozart, der Urgroßvater des weltberühmten Komponisten. 

 

Bis heute wird die Sozialsiedlung nahezu ausschließlich aus dem Stiftungsvermögen (Forstwirtschaft und Immobilien) der drei Linien der Fugger-Familie – Fugger-Kirchberg, Fugger-Babenhausen und Fugger von Glött – finanziert.

 

Lesenswertes über die Fugger und darüber hinaus

 

Die Absolventin der Filmhochschule Astrid Gabler, die seit 2016  die Abteilungen Kommunikation und Programme der Fuggerschen Stiftungen leitet, hat als Herausgeberin viele Fachleute in das Projekt eingebunden: die Historiker Dr. Stefan Birkle, Franz Karg M.A. und Prof. Dr.  Dietmar Schiersner – alle für das Fugger-Archiv tätig –, die Historikerin Dr. Anke Sczesny und die Architekturhistorikerin Dr. Hilde Strobl.

 

Über die Entstehung der Siedlung, die Familiengeschichte und die historische Einordnung schreibt Prof. Schiersner in den beiden ersten Kapiteln, „Um 1500: Die Fugger, Augsburg und die weite Welt“ und „Schenken und Stiften – Frömmigkeit und Familie“. Interessant auch sein Aufsatz „Der Mietnachlass als soziale Innovation: Warum ein Rheinischer Gulden?“. Hilde Strobl untersucht in ihrem Aufsatz die Architektur der Fuggerei zwischen Tradition und Modernität, Franz Karg beschäftigt sich mit Veränderungen und Krisen der Siedlung und der Stiftungen im Laufe der Geschichte. 

 

Für Anke Sczesny steht der interessante Aspekt der Armenfürsorge und Armutsbewältigung bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zentrum und Stefan Birkle widmet sich in dem Abschnitt „Arbeiten für die Fuggerei“ den vielfältigen Aufgabenbereichen: von den Verwaltern und der Administration über die Baumeister und die Bedeutung der Forstwirtschaft für die Stiftung, bis hin zu den Handwerkern, die Kirche und den sozialen und medizinischen Dienst.

 

Ein Prachtband zum Geburtstag

 

Eine Großteil der Texte stammt von Sigrid Gribl, als selbstständige Texterin und Autorin seit 2014 auch als Beraterin für Texte und Inhalte für die Fuggerschen Stiftungen aktiv. Sie hat z.B. Texte über die Geschichte der Fuggerei von 1905–1945, über die Fuggerei-Bewohner oder das interessante Kapitel „Legenden, Fake News, Tatsachen zur Fuggerei“ verfasst.

 


Den gelungenen Abschluss des Bandes lieferte die mehrfach ausgezeichnete und in Leipzig lebende Schriftstellerin Anja Kampmann (u.a. „Wie hoch die Wasser steigen“ 2018 oder „Der Hund ist immer hungrig“ 2021, beide Carl Hanser Verlag, München). In „Möchten’s Pfannkuchen? Eine Einladung in die Fuggerei von heute“ schildert sie ihren dreitägigen Besuch in der Fuggerei und die Begegnungen mit den heute dort lebenden Menschen. Den Schluss bildet das Gedicht „Fuggerei“.

 

Es  ist ein Vergnügen und dazu informativ, in diesem Buch über die älteste Sozialsiedlung der Welt zu zu lesen, doch auch die Aufmachung und besonders die Bildauswahl, bei der die Menschen im Mittelpunkt stehen, machen den Band attraktiv und zu einem netten Geschenk. Es handelt sich um eine Mischung aus modernen und historischen Bildern, Grafiken und Texten, die den Anlass der Publikation, der Feier des 500. Geburtstags der Fuggerei, gebührend würdigen. Interessanter Lesestoff mit vielen Infos zur Geschichte der ältesten Sozialsiedlung der Welt und ein Buch, das man gerne immer wieder zur Hand nimmt.

 

Weitere Informationen:

www.fugger.de/fuggerei.html

www.augsburg-tourismus.de

M. Brinke – P. Kränzle, CityTrip Augsburg, Reise Know-HowVerlag, Bielefeld,

ISBN: 978-3-8317-3256-2, 144 Seiten, 4. Aufl. 2019

Fugger & Welser Museum Augsburg

 

© Text & Fotos: MB-PK


CALLAN WINK, BIG SKY COUNTRY


Callan Wink, Big Sky Country

Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer

Suhrkamp Verlag Berlin, 2021

Gebunden, 378 Seiten, 
ISBN: 978-3-518-42983-9, 23 €

Im Original erschienen unter dem Titel "August" (Random House).

 

„Big Sky Country“ ist der Spitzname des US-Bundesstaates Montana, 1962 als werbewirksamer Slogan vom Montana State Highway Department aufgebracht. Er bezieht sich auf den endlosen Horizont, die gigantische Weite der Landschaft Montanas. In dieser spielt ein guter Teil des  Debut-Roman des Amerikaners Callan Wink (*1984), der von Hannes Meyer ins Deutsche übersetzt wurde und kürzlich im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Wink ist ein junger, noch nicht allzu bekannter Autor. Er arbeitet im Sommer als Fly Fishing Guide auf dem Yellowstone River in Montana, im Winter lebt, surft und schreibt er im kalifornischen Santa Cruz. 2016 erschien bereits sein Erzählungsband „Dog Run Moon“ ("Der letzte beste Ort").



Fernab von Glitz und Glimmer

Schauplätze des Romans sind das ländliche Michigan und das dünn besiedelte Montana, weit weg von Glitz und Glimmer, von großstädtischem Leben und hoher Kultur.  Es handelt sich um einen sog. Bildungs- und Entwicklungsroman oder um eine »coming-of-age story« im ländlichen Amerika, im »Heartland« der USA. Wink begleitet seinen Protagonisten August – so auch der Titel der englischen Originalfassung – über einen Zeitraum von rund 13 Jahren, beginnend Ende der 1990er-Jahre, als er 12 Jahre alt war, bis zu einem Alter von Mitte 20.

 

Der 12-jährige August, »Augie« genannt, wächst auf einem Milchviehbetrieb in Michigan auf und verbringt seine Zeit vor allem mit Kühemelken, Heumachen, im Geräteschuppen, mit seinen Hunden oder beim Fischen. Auf Geheiß seines Vaters macht er sich daran, die sich übermäßig vermehrenden Katzen auf dem Hof zu töten. Für jeden abgelieferten Schwanz erhält er einen Dollar – so beginnt der Roman. Der Junge soll schließlich hart und ein richtiger Mann werden, dabei ist er in Realität eher ein Träumer mit wenig Emotionen, der lieber abhängt und beobachtend durch die Gegend streift. Konflikten geht er aus dem Weg, er prügelt sich nicht gern. 

 

 
Während Augie Katzen zur Strecke bringt, bröckelt die Ehe der Eltern. Vater Darwin – Wink wählt gerne bedeutungsträchtige Namen! – arbeitet hart und ist bodenständig, während die kettenrauchende Mutter Bonnie eher verträumt, esoterisch und etwas skurril wirkt. Sie hat „Gedankenwolken“ und geht den Pfad der Selbstvervollkommnung, fühlt sich benachteiligt und unterfordert. Der Vater nimmt sich die handfeste, zupackende, viel jüngere „Hilfsarbeiterin“ Lisa zur Geliebten; sie erfüllt eher seine Vorstellungen von einer Ehefrau. Bonnie ist ausgezogen, ins alte Farmhaus, während Vater und Freundin das neue Haus bewohnen. Der junge August pendelt zwischen Mutter und Vater, ist hin- und hergerissen.

 

Neustart im Big Sky Country Montana

Die eingereichte Scheidung veranlasst die Mutter mit August wegzuziehen, nach Montana – es ist ein langer, emotionsgeladener Roadtrip, der da geschildert wird. Sie findet Arbeit als Bibliothekarin in Livingston und man lebt in einem bescheidenen Haus, einem ehemaligen Bordell. Der Big Sky von Montana soll sie und August „befreien“ und zu sich kommen lassen. Dabei wirkt August zunächst recht antriebslos, er radelt über die endlosen Straßen Montanas und angelt an einsamen Flussufern. Es dauert, bis der schüchterne Junge Freundschaften schließt. Er beginnt American Football zu spielen, was zwar zu seiner Statur passt, wovon er jedoch regelmäßig Kopfweh bekommt. Er bemüht sich redlich, ein richtiger Mann zu werden und geht eine kurze Affäre mit einer älteren Nachbarin namens Julie ein, die zugleich enge Freundin der Mutter ist.

 

Nachdem diese Liebschaft jäh endet, zieht er P.B.R (Papst Blue Ribbon) und Pickup Trucks den Frauen und anderen Vergnügungen vor. Jungengespräche mit Bier und Whiskey am Lagerfeuer, die er gelegentlich mitmacht, sind fortan die einzige Abwechslung – neben den Telefongesprächen mit dem Vater (und später auch mit der Mutter), die sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen. Es sind triviale Gespräche, vor allem über das Wetter und die Landwirtschaft, übers Essen und den Fortschritt mit den Frauen. Der Vater versucht ihn immer wieder zu überzeugen, zurückzukehren, gibt vor, Hilfe zu brauchen und versteht nicht, wieso August für andere arbeitet, statt die eigene Farm zu übernehmen.

 

August wirkt unsicher und abgeklärt zugleich, jung und alt, dumm und klug. Er hängt am Landleben, liebt Natur und Landschaft, tut aber den ganzen Roman über wenig Signifikantes. Nach Beendigung der Highschool ist er unentschlossen, beobachtet, wie mehr und mehr seiner Freunde sich an einem College einschreiben oder sich in Folge der Anschläge des 11. September anwerben lassen und in den Krieg ziehen, nach Afghanistan, um den islamistischen Terror zu bekämpfen.

 

Schlüsselerlebnis mit Folgen

 

In Teil 2 des Buches kommt dann ein Freund Augusts, Ramsey, in eben diesem Krieg ums Leben, und wird als Held gefeiert. In seinem Angedenken findet eine Feier, oder eher ein Saufgelage, statt, dass mit einer Massenvergewaltigung endet, ein Schlüsselereignis für August, der weder aktiv daran beteiligt war, noch versucht hat, das Geschehene zu verhindern. Dabei hätte er gerne mit der Betroffenen, June, Freundschaft geschlossen. Der Drahtzieher der Aktion macht August das Leben schwer, doch dieser setzt sich ausnahmsweise einmal durch, beschließt aber nach der Begegnung, abzuhauen.

 

Er packt seine Sachen und landet auf der Virostok Ranch bei Ancient und Kim – sehr gegensätzlichen Charakteren. Diese abgelegene Ranch liegt in der Nähe einer Hutterer-Gemeinde, einer religiösen Gruppe, die hier mit allerhand Mythen und Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht wird. Tim Duncan wird Augusts neuer Freund, mit ihm zieht er nach hartem Arbeitstag durch Bars, besucht Rodeos und lernt auf dessen Geheiß widerwillig das Tanzen und die Regeln im Umgang mit Frauen. Als ein anderer Cowboy ihm seine Freundin Maya ausspannen will, prügelt er sich mit ihm, doch ansonsten prägen Lethargie, Alkohol, harte Arbeit mit Ancient auf der Ranch, und Begegnungen mit ein paar skurrilen männlichen Gestalten den Alltag. August ist genügsam.

 


Der letzte, dritte Teil beginnt mit einem Arbeitsunfall auf der Ranch, nach dem August zwei Finger amputiert werden müssen. Er kehrt zur Mutter zurück, die inzwischen vor einer neuerlichen Heirat steht. Tim kommt ihn besuchen und schenkt ihm zwei Hunde – der Kreis zum Kind »Augie« schließt sich – und August rechnet in einer Art Showdown mit dem Anstifter des damaligen Verbrechens an June ab.  Am Ende erfährt er, dass der Vater die Farm verkauft hat, um mit der schwangeren Lisa nach Traverse City zu ziehen. In der Abschlussszene nimmt August den alten Pickup und fährt weg, fast wie im Film, während die Eltern ihre beiden Stühle wieder näher aneinander rücken.

 

Unspektakulär, aber aussagekräftig

Insgesamt verläuft Augusts Leben ziemlich unspektakulär und ist der Roman höchst unaufgeregt. Wer auf Action und Spannung steht, kann auf Winks Roman verzichten. Es geht langsam voran, wobei das Erzähltalent von Callan Wink unumstritten ist. Seine Prosa lässt das Gras im Wind rhythmisch wogen und zeichnet Landschaftsbilder mit Wolken, Wind und Weite. Das Landleben wird mit Kühen und frisch gemolkene Milch, Maschinen und Motoröl zum Ereignis. Die ganze Geschichte zeichneten sich durch ihre Belanglosigkeit aus, durch emotionale Distanz und das Fehlen von Nostalgie oder Sentimentalität. Alles fließt dahin und im Zentrum steht der unaufgeregte Blick auf das Leben eines heranwachsenden Jungen zunächst auf einer Milchfarm in Michigan und dann in den Weiten Montanas.

 

© Text: MB

© Fotos: MB mit Ausnahme der Montana-Landschaft oben, © Montana Office of Tourism