Zora Neale Hurston, Barracoon

Zora Neale Hurston, Barracoon: Die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven
Penguin Verlag, München 2020
gebunden, 224 Seiten, 20 €
ISBN-10: 3328601309
ISBN-13: 978-3328601302
Buchcover ©Verlag
Porträt Autorin ©WikiCommons





Nein, so gut es in Zeiten von „Black Life Matters“ gepasst hätte, dies ist kein Buch über die Sklaverei in Nordamerika und die Grausamkeiten der Weißen. Zora Neale Hurstons Buch „Barracoon“ unterscheidet sich von klassischen Sklavengeschichten. Diesbezüglich täuscht auch der Untertitel des im Penguin Verlag erschienenen Buches. Aber es ist gut so, denn stattdessen lernt der Leser einen vormals im Zusammenhang mit Sklaverei kaum beachteten neuen Aspekt kennen: die Feldzüge afrikanischer Herrscher, die massakrierten und Gefangene machten und diese an Weiße verkauften, die sie auf Schiffen in die Neue Welt brachten.

Zora Neale Hurston

Man kennt die 1891 in Alabama geborene und 1960 in Florida verstorbene Autorin in erster Linie im Zusammenhang mit der Gruppe „Harlem Renaissance“, jenem intellektuellen Konglomerat an Schriftstellern, Dichtern und anderen Künstlern, die in den 1920er-Jahren Geschichte gemacht haben. Hurston war außerdem Volkskundlerin und Anthropologin, die als solche durch „Mules and Men“ (1935) bekannt wurde. Ihr erster Roman „Sweat“ von 1926 spielt in ihrer Heimatstadt Eatonville in Florida und beschäftigt sich mit Rassen-Konflikten, ihr bekanntestes (eher feministisches) Werk „Their Eyes Were Watching God“ („Vor ihren Augen sahen sie Gott") folgte 1937.

Hurstons Lehrer am Barnard Institute (Columbia University, NYC), an dem sie 1928 ihren Abschluss machte, war interessanterweise der deutschstämmige Ethnologe, Sprachwissenschaftler und Geograph Franz Boas (1858–1942). Er war 1886 nach Amerika immigriert und gilt als „Vater der amerikanischen Anthropologie“. Die Differenzierung in höher- und minderwertige Kulturen lehnte Boas stets ab und legte stattdessen Wert auf eine Beurteilung von Kulturen nach jeweils eigenen Kriterien.

Unter Boas Leitung führte Hurston 1927 mehrere Monate lang Feldforschungen in Florida und Alabama durch. In Africatown (oder „Plateau“), einer 1860 von einer Gruppe von 32 Westafrikanern, die auf dem letzten Sklavenschiff nach USA gelangt waren, gegründeten Siedlung rund 5 km nördlich von Mobile/Alabama, traf sie auf den hochbetagten Oluale Kossola. Er lebte zu diesem Zeitpunkt seit mehr als 60 Jahren in Africatown, war bereits von anderen Anthropologen, Historikern und Journalisten besucht und befragt worden und vielleicht bekannter als Hurston selbst. Sie hatte zunächst den Auftrag, für das „Journal of Negro History" einen „Bericht aus erster Hand" über den Raubzug zu verfassen, dem Kossola zum Opfer gefallen war. Letztendlich wurde ein interessantes Buch daraus.

Cudjo Lewis Geschichte


„Barracoon“ erzählt die Geschichte von Oluale Kossola, den man in Nordamerika „Cudjo Lewis“ nannte. Er war 1860 auf dem letzten – illegal operierenden – Sklavenschiff „Clotilda“ über die Mittelpassage nach Nordamerika verschleppt worden. Ende des 18. Jh. hatten die Amerikaner neben Briten und Portugiesen den atlantischen Schiffshandel mit Menschen dominiert. Der Transport von Sklaven war Teil des Dreieckhandels, jener Handelsroute zwischen Europa, Afrika und Amerika, auf der Rohstoffe, Rum und eben auch Arbeitskräfte transportiert wurden. Schon 1808 war ein „Gesetz zum Verbot der Einfuhr von Sklaven“ in Kraft getreten, Verstöße wurden wie Piraterie mit der Todesstrafe geahndet. Dennoch waren weiterhin Sklavenschiffe unterwegs.

So machte sich im März 1860 der Schoner „Clotilda“ unter Kapitän William Foster, unterstützt von dem Händler und Großgrundbesitzer Timothy Maeher auf die Fahrt nach Ouidah/Westafrika. 125 Afrikaner, die in Barracoons von Dahomey (Benin) saßen, wurden aufgenommen und man legte nach 45 Tagen an der 12-Mile Island im Mobile River an. Die Afrikaner gingen von Bord und wurden aufgeteilt, das Schiff in Brand gesetzt und versenkt um die Fahrt zu kaschieren.

Hurston befragte 1927 den betagten, heiter-scharfsinnigen Kossola über sein Leben und er erzählt ihr – teils erfreut über das Interesse, teils widerwillig, teils bestochen mit Pfirsichen und Schinken und dankbar für Hurstons Fahrtdienste – über seine Zeit in Westafrika, über ständige Kriege zwischen Herrschern und Dörfern, über seine Gefangennahme und die Unterbringung in den „Barracoons“. Dieses aus dem Spanischen abgeleitete Wort für Baracke oder Zwinger, in denen Menschen vor dem Verkauf eingesperrt wurden, diente dann auch als Buchtitel.

Afrikanischer Sklavenhandel

1860 war Kossola im Alter von 19 Jahren auf der Clotilda unfreiwillig nach Amerika gekommen. Sein Heimatdorf in Dahomey (jetzt: Benin) war überfallen worden, Männer und Frauen seines Dorfes massakriert oder gefangen genommen und als Sklaven in die Barracoons am Hafen gesperrt worden, ehe sie an Amerikaner verkauft wurden. Kossola spricht mit Hurston vor allem über seine Kindheit und Jugend in Afrika, über die verbreiteten Machtkämpfe und die recht rauen Sitten unter Königen und zwischen Sippen, über Riten und Traditionen. Über seine Heimat und das Leben dort zu berichten, ist ihm wichtiger als die Gefangennahme selbst oder das Leben in der Sklaverei. Die fünfeinhalb Jahre als Sklave in den USA werden im Buch auf knapp zwei Seiten abgehandelt.

Ein Hauptanliegen des Buches ist vielmehr, herauszustellen, dass nicht allein die Weißen die Schuldigen waren, sondern auch afrikanische Stammesfürsten bzw. Könige beteiligt waren. Sie waren es, die andere Afrikaner einfingen um sie wie Ware nach Amerika zu verkaufen. „Mein Volk hatte mich in die Sklaverei verkauft, und die Weißen hatten mich gekauft.“ – so Kossola. Der König von Dahomey war bekannt für seine Menschenjagden, für Menschenopfer und für das königliche Gefängnis.

Dank des 13. Zusatzartikels zur US-Verfassung wurde Kossola 1865 wieder ein freier Mann, jedoch entwurzelt und mit großer Sehnsucht nach seiner alten Heimat. Sein Plan zurückzukehren, scheiterte am Geld für die lange Überfahrt. Schließlich gelang es ihm, Land zu erwerben und er ließ er sich mit ein paar Dutzend „Leidensgenossen“ in „Africatown“ (heute: Africatown Historic District) nieder und versucht dort nach den Regeln und Gesetzen der alten Heimat zu leben. Er gründet eine Familie, doch Kossolas Frau und alle seine Kinder starben vor ihm – ein eher deprimierendes Ende für einen stolzen Mann, der auf zum Fototermin mit Hurston seinen besten Anzug anzieht, aber keine Schuhe, da er aussehen möchte „... wie in Afrika, weil das ist, wo ich sein will."

Kein einfaches Buch


Das Buch ist keine reine Erzählung, es ist fast schon eine wissenschaftliche Abhandlung. Außer Kossolas eigenem Bericht, enthält es einen umfassenden Vorspann mit Vorworten von Alice Walker, der Herausgeberin Deborah G. Plant sowie von Zora Neale Hurston selbst. Dazu kommt ein umfangreicher, informativer Anhang mit Nachwort von Plant sowie Glossar und zahlreichen Anmerkungen und Erklärungen zu historischen Fakten. Zudem wurde ein Kapitel des englischen Originals angefügt, das eine gute Vorstellung von der Sprache Kossolas gibt.

Zora Neale Hurstons Zeitzeugenbericht, zum Zeitpunkt der Niederschrift einer von wenigen Berichten über die Sklaverei in den USA, erschien posthum 2018, zunächst in den USA unter dem Titel „Barracoon. The Story of the Last „Black Cargo“. Damals war das Manuskript schon 87 Jahre alt und damit so alt wie Oluale Kossola, der 1841 geborene Protagonist. Die Autorin war bereits seit 58 Jahren tot. Sie hatte 1931 das Manuskript fertig gestellt, ohne dass sich jemand dafür interessiert hätte.

Hurston lässt Kossola seine Geschichte großteils in direkter Rede mit eigenen Worten erzählen. Sie hatte mehrmals abgelehnt, den Text in standardisiertem Englisch zu veröffentlichen, wollte die Geschichte so authentisch wie möglich wiedergeben und die Unmittelbarkeit des gesprochenen Wortes bewahren. Das war nicht nur ein schwieriges Unterfangen für Hurston, sondern auch keine leichte Aufgabe für den Übersetzer der deutschen Ausgabe, Hans-Ulrich Möhring. Dieser hat sie jedoch meisterhaft gelöst. Das Problem der Übersetzung wird zudem im umfangreichen Anhang thematisiert.

Zum Schluss noch ein Lesetipp zum Thema Sklavenhandel zwischen Afrika und Nordamerika sowie über die Geschichte der Sklaverei, dieses Mal mit Blick auf die Ureinwohner (zu späterem Zeitpunkt wird dieser Titel noch besprochen werden):
Andrés Reséndez, The Other Slavery. The Uncovered Story of Indian Enslavement in America (2016)

Francisco Cantú, No Man’s Land

Francisco Cantú, No Man’s Land. Leben an der mexikanischen Grenze
Carl Hanser Verlag (München 2018)
übersetzt aus dem Amerikanischen von Matthias Fienbork
240 Seiten; ISBN: 978-3-446-26026-9, 22 €
Buchcover © Hanser Verlag, Autorenfoto© Keith Marroquin, Hanser Verlag.

Francisco Cantú war zwischen 2008 bis 2012 als Officer der United States Border Patrol in den Wüstenregionen von Arizona, New Mexiko und Texas auf Grenzpatrouille. Über seine Erlebnisse schrieb er ein Buch, das unter dem Titel „No Man’s Land“ 2018 auch in Deutschland erschienen ist. Es ist der erschütternde Erfahrungsbericht eines Insiders, der die Sinnlosigkeit von Grenzen deutlich macht.

Trump und seine Mauer
„Es ist wichtig zu verstehen,“ meinte Cantú in einem Artikel, den er im Sommer 2018 für die New York Times verfasste, „dass die derzeitige Krise an der Grenze in Wahrheit nur die abscheuliche Verdeutlichung eines jahrzehntelangen Versuchs darstellt, den Ausnahmezustand zu erreichen.“ Für ihn ist der Effekt von Donald Trumps plumper Rhetorik lediglich, dass endlich mehr Menschen aufmerksam geworden sind auf die Situation der Migranten an der südlichen Grenze. Denn „die Militarisierung der Grenze, der Umstand, dass wir die Landschaft regelrecht als Waffe nutzen, … – all das passiert seit Jahrzehnten ohne einen nennenswerten Aufschrei von unseren Politikern, Medien oder unserer Gesellschaft als Ganzes“.




Das Buch von Francisco Cantú ist zur richtigen Zeit erschienen. Diskussionen um die Grenze zu Mexiko waren für die meisten Amerikaner und den Rest der Welt die Ereignisse an der „Border“ sehr weit weg. Cantú (*1985), Enkel eines mexikanischen Einwanderers, hat Politik studiert und wollte am eigenen Leib erfahren, was an der Grenze wirklich abläuft. Deshalb bewarb er sich bei der U.S. Border Patrol – ganz gegen den Willen seiner Mutter, einer ehemaligen Rangerin im Guadalupe Mountains National Park. Doch Cantú war der festen Überzeugung, dass er die Wüste, den Überlebenskampf und die Spannungen zwischen den Kulturen nur verstehen könne, wenn er selbst vor Ort ist.

Auf Grenzpatrouille

So rettete er als Mitglied der Border Patrol einerseits Verdurstende aus der Wüste, deportierte aber andererseits illegale Einwanderer oder erlebte, wie Familien auseinandergerissen und Flüchtlinge erniedrigt wurden. In seiner Reportage zeigt er, was Grenzen für die Menschen wirklich bedeuten. „No Man’s Land“ gleicht einer Tragödie und bildet dennoch die Realität wahrheitsgetreu ab: objektiv, grausam und zutiefst berührend.
 Was Cantú an der amerikanisch-mexikanischen Grenze erlebte, brachte ihn fast um den Verstand, auch als er ins Büro versetzt wurde und die Grenze nur noch am Bildschirm überwachte. Schnell wurde ihm klar, dass Grenzpolizisten keine unerfahrenen Studenten sind wie er selbst, sondern vielfach verbitterte ehemalige Polizisten und Soldaten, denen in der Ausbildung eingetrichtert wurde, sie hätten es an der Grenze mit Banditen der mexikanischen Drogenkartelle zu tun. In Wahrheit sind die Grenzpatrouillen langweilig und am Ende griffen die Officer immer nur verängstigte und hilflose Flüchtlinge auf, die eigentlich überhaupt nicht in das „Terroristenprofil“ passen.

Einerseits schildert Cantú die Ereignisse aus persönlicher Sicht, erzählt von seinen Zweifeln und Alpträumen. Andererseits versucht er anhand von sachlichen, teils sehr akademisch gehaltenen Einschüben die Geschichte, Entwicklung und Ideologie der Grenze zwischen den USA und Mexiko zu erläutern.  Dieser Perspektivenwechsel macht die Lektüre nicht immer einfach, aber hochinteressant. Im letzten Drittel des Buches ändert sich der Ton, wird persönlicher und zieht den Leser tiefer in die herrschende Misere hinein: Nun schildert der Autor das Schicksal seines neuen Freundes José, der seit 30 Jahren in den USA lebt, eine Familie gegründet hat, doch nach dem Besuch seiner sterbenden Mutter in Mexiko nicht mehr in die USA zurückgelassen wird. Ein für die Grenze typisches Schicksal, an dem Cantús Engagement scheitert und seine Hilflosigkeit angesichts der bornierten Bürokratie zutage tritt.

In „No Man’s Land“ geht es um die gleichgültige Brutalität des Systems, um die Ungerechtigkeit der derzeitigen Gesetze und darum, wie eine militarisierte Grenze Familien kaputt und den amerikanischen Mythos von Freiheit und Gleichheit zur Farce macht. Cantú, der heute in Tucson/Arizona lebt, erhielt 2017 dafür den prestigeträchtigen Whiting Award – alljährlich verliehen an die besten Nachwuchsautoren. Der Originaltitel „The Line Becomes a River. Dispatches From the Border“ erschließt sich beim Lesen und dank des Epilogs. Es gibt nämlich durchaus noch offene Grenzabschnitte wie am Rio Grande River in Texas, wo der „kleine Grenzverkehr“ Alltag ist.



WEITERE LESETIPPS

Wer das Thema weiter vertiefen möchte – hier eine Auswahl anderer lesenswerter Bücher:

• Octavio Solis, Retablos. Stories from a Life Lived Along the Border (City Lights Publisher, 2018)

• Luis Alberto Urrea, Across the Wire. Life and Hard Times on the Mexican Border (Anchor Books/Doubleday, 1993)

• Sam Hawken, La Frontera (2013, deutsch: „Kojoten“, Polar-Verlag 2015)



Marilynne Robinson, Zuhause

Marilynne Robinson, Zuhause.
Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling.
Fischer Verlag Frankfurt, 2018
Hardcover, ISBN: 978-3-10-002458-9, 22 €
© Foto Buchcover: S. Fischer Verlag, Autorenfoto: © Verlag/Ulf Andersen

Marilynne Robinson, 1943 in Idaho geboren und heute in Iowa lebend, ist eine bekannte, vielfach ausgezeichnete amerikanische Romanschriftstellerinnen. Ihre Popularität wuchs besonders, als der frühere Präsident Obama sie als eine seiner Lieblingsautorinnen bezeichnete. Robinson hat eine Romantrilogie verfasst, die seit der Veröffentlichung des zweiten Teils, „Zuhause“ im S. Fischer Verlag im Oktober 2018 nun auch in deutscher Sprache komplett vorliegt. Kurioserweise ging die Übersetzung von Teil 3 diesem Band voraus. „Gilead“, „Zuhause“ und „Lila“ spielen alle in dem fiktiven Ort Gilead, irgendwo in den Weiten von Iowah. Der Ortsname stammt übrigens aus der Bibel und bezeichnet ein steiniges, karges Gebiet östlich des Jordan.

Rückkehr nach Gilead
„Home“, 2008 unter diesem Titel in Englisch veröffentlicht, folgt auf Teil 1, „Gilead“, in dem es um die Erinnerungen des alten Priesters John Ames in Form
eines langen Briefes an seinen Sohn geht. „Lila“, Teil 3, beleuchtet dann das Schicksal von Ames‘ zweiter Ehefrau.„Zuhause“, der Band, um den es hier geht, handelt von der Familie des mit Ames befreundeten Reverend Robert Boughton. Gleich zwei der insgesamt acht Geschwister kehren in den 1950er-Jahren nacheinander ins Elternhaus im öden Provinznest Gilead zurück, wo der alte Vater, ein Presbyterianer-Pfarrer, allein und krank lebt.

Glory Boughton, die 38-jährige jüngste Tochter, kommt nach einer gescheiterten Beziehung als Erste heim um den Vater zu pflegen. Ihr folgt wenig später der fünf Jahre ältere Bruder Jack. Nach über 20 Jahren Abwesenheit wird er vom Vater mit großer Freude empfangen. Nachdem er ein Mädchen aus der Nachbarschaft geschwängert hatte, war er verschwunden und nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter vor zehn Jahren zurückgekommen. Acht Kinder sind im alten Haus des Ehepaares aufgewachsen, alle gut geraten und gläubig – mit Ausnahme dieses einen Sohnes... Jack galt immer als der »Bad Boy“ der Familie, als faul und frech, labil und wankelmütig. Im Roman kommen seine Jugendstreiche zur Sprache, weit schwerer aber wiegen seine Alkoholsucht und die Tatsache, dass er im Gefängnis war. Das Alter Ego des Vaters, Reverend Ames, verachtet den Heimkehrer, doch der Vater – selbst von Schuld geplagt – nimmt seinen Liebling, der ihn ehrfurchtsvoll „Sir“ nennt, mit offenen Armen auf und zieht ihn sogar der sich aufopfernd kümmernden, sanftmütigen Tochter Glory vor.

Annäherung und Kritikbewusstsein
Auch Schwester und Bruder nähern sich an. Nach vorsichtigem Abtasten wandelt sich das anfangs angespannte Verhältnis zum Positiven, die „Fromme“ und der „Abtrünnige“ arbeiten gemeinsam ihre Vergangenheit auf. Die immer traurig wirkende, allein gelassene, religiöse gute Fee im Elternhaus und der Ex-Alkoholiker, der beginnt den alten Pfarrgarten zu pflegen und am alten Oldtimer zu schrauben, wirken wie zwei Gescheiterte, die sich aneinander aufrichten. Jack schreibt ständig Briefe, erhält jedoch nie Antworten. An wen er schreibt, wird erst am Ende des Romans klar, als sie an der Gartentüre steht: eine Frau namens Della, die er kurz nach der Entlassung aus der Haft kennengelernt hat. Sie hat sich mit dem gemeinsamen Sohn Robert und der Schwester auf den Weg gemacht, Jack zu finden, doch vergebens, denn dieser hat bereits das Weite gesucht, als der Vater im Sterben liegt.

Mehrmals sind die Rassenunruhen in Montgomery ein Thema im Buch. Während der alte Patriarch und sein Freund die schwarze Bürgerrechtsbewegung als nebensächlich und vorübergehend abtun, hält sie Jack für wichtig und wird einmal sogar ungehalten – aus Gründen, die man später erfährt. Während die Polizei schwarze Demonstranten mit Schlagstöcken und Hunden zurückdrängt, meint der Vater: „Man darf diesen Ärger nicht zu ernst nehmen. In einem halben Jahr erinnert sich kein Mensch mehr daran“. Jack darauf: „… ich habe in Städten gelebt, wo es Neger gibt. Es sind oft gute, fromme Christen“. Er bezweifelt, dass die Kirche ihre Sache gut gemacht hat, wie es die Alten betonen.

Religiöser Roman mit Tiefgang
Zugegeben, dieser Roman erfordert etwas Resilienz. Wer auf Action steht, wird enttäuscht. Erzählt wird von Scham und Würde, von Gnade und Vergebung. Es geht um Fragen des Glaubens, um Sünde, Schuld und Scheitern, Demut und Fürsorge, Pietät und Moral, aber auch um Rassismus und dessen Überwindung durch Liebe. Das Haus ist von Bibelzitaten und geistlichen Liedern am Klavier erfüllt. Erfrischend normal und feinfühlig dann die Alltagsszenen aus einem Pfarrhaus – Küchengespräche, Gartenarbeit, Erinnerungen an die Kindheit – vor allem diese Dialoge belegen die große Erzählkraft der Autorin.