Martijn Storms (Hrsg.)
Karten - Ein Atlas der Weltgeschichte
432 Seiten
Gebunden, 28,0 x 34,0 cm
€ 99,00 [D] / € 101,80 [A] / CHF 127,00
ISBN 978-3-7913-8048-3
Prestel Verlag München
Oktober 2024
Mit dem Finger auf der Landkarte auf Weltreise gehen – wer hat das nicht schon mal gemacht? Eine Karte macht die Welt lebendig, regt die Vorstellung an, erweckt Neugierde und Fernweh. Historische Karten lassen uns dazu in die Vergangenheit eintauchen und alte Welten wiederauferstehen.
Unibibliothek Leiden um 1610 ©WikiCommons-
Bei dem im Prestel Verlag erschienenen Band hat man mit über drei Kilo durchaus etwas in der Hand, viele Karten und noch mehr historische Information. Anhand von 100 ausgewählten Karten aus zehn Jahrhunderten Weltgeschichte geht es in dem Buch weniger um Kartenzeichner und die Wissenschaft an sich als um die historische Bedeutung von Karten. Die Karten stammen aus der umfangreichen Sammlung der Universitätsbibliothek Leiden (UBL), deren Grundstock 1872 mit dem Erbe des Kartensammlers Johannes Tiberius Bodel Nijenhuis gelegt wurde.
Obwohl die ersten vier Seiten des Buches mit einer Zeitleiste das historische Interesse wecken, geht es nicht darum, eine umfassende Weltgeschichte zu präsentieren. Man ist bemüht um größtmögliche Vielfalt, allerdings herrscht zwangsläufig, aufgrund der Herkunft der Sammlung, vor allem eine westliche, wenn nicht sogar niederländische Perspektive vor. Es geht um historische Karten, die vielfach den Lauf der Geschichte mitbestimmt haben und Zeugnis von der kolonialen Vergangenheit der Niederlande und anderer europäischer Länder ablegen.
Schön sind die verschiedenen Kartentypen: Weltkarten – bei denen der Kartograf ja häufig sein eigenes Land in den Mittelpunkt rückt –, Karten zu Religion und Sprache, Mythologie, Wirtschaft, Straßenbau, Stadtentwicklung und vielen anderen Aspekten. Die älteste Karte in der UBL (und im Buch) datiert um 800, es ist ein einfaches Diagramm der im Mittelalter in Europa bekannten Welt, wie sie häufig in Klöstern als Teil von mittelalterlichen Handschriften angefertigt wurden. Dass Karten müssen nicht rechtwinklig sein müssen, sondern z.B. in Gestalt eines Vogels vorkommen, sieht man an einer, die 1193 die islamische Welt dargestellte.
Um Afrika herum nach Asien – 1490, als diese Karte (oben) entstand, war ein Wandel des europäischen Weltbilds eingetreten. Es war die Zeit der spanischen und portugiesischen Expeditionen, auf der Suche nach neuen Seerouten. Die Karte von Henricus Martellus zeigt die Welt kurz nach Bartolomeu Dias‘ bahnbrechender Fahrt 1488. Ihm war es als Erstem gelungen, das Kap der Guten Hoffnung zu umrunden. Damit war die Seeroute nach Asien in Reichweite gerückt, eine bessere und risikoärmere Alternative zu der über das Rote Meer.
Es gibt im Buch Stadtpläne von Leiden und Den Haag, aber auch einen sehr detaillierten von 1593 von Jerusalem, aus einem Kartenbuch vom Heiligen Land, oder auch einen interessanten Plan vom antiken Rom. Von 1600 stammt eine Seekarte, die den Atlantik zeigt, „auf dem Rücken eines Tieres“ – nach der Form und der Größe von 100x80 cm; sie ist auf Pergament gedruckt und steht für den Anfang der holländischen Seekartenproduktion.
Ebenfalls neu: die Amsterdamer
Globusproduktion, die durch eine Karte von 1621 (Johannes Janssonius) vertreten ist. Mit der Entwicklung des Fernrohrs Anfang des 17. Jh. kommt
auch die Kartierung des Mondes in Gang, wie eine Karte von 1645 zeigt. Wenig
später erreicht der Wettbewerb unter den Weltatlanten mit dem Erscheinen des "Atlas
Maior" von Blaeu mit über 600 Karten in neun Teilen seinen Höhepunkt. 1698 erhält
man erstmals „Afrika an der Wand“ – Wandkarten, aufwändig mit Kupferplatten
gefertigt. Sie werden zum Symbol für Kolonialismus und Sklavenhandel. Globus Schloss Hellbrunn©MB
In das Genre der linguistischen Kartografie fällt eine Sprachkarte des Vaterunsers von 1741 von Gottfried Hensel. Er trägt auf eine Karte von vier Kontinenten jeweils die ersten Zeilen des Vaterunsers in der Landessprache ein. Tierkarten – ein anderer Kartentyp – werden z.B. in Form einer Elefantenkarte von Ceylon vorgeführt, es gibt Plantagenkarten und koloniale Sprachkarten, und eine meterlange Manuskriptkarte zum Kanal von Aragonien von 1771. Ebenso ungewöhnlich ist eine Routenkarte für den chinesischen Kaiser von 1784.
Die Suche nach Atlantis hat seit Ewigkeitenn die Menschheit beschäftigt. Der sagenumwobene Kontinent, der im Meer versunken sein soll, wird auf einer Karte von Maximilien-Henri de Saint-Simon (Marquis de Sandricourt) 1785 lokalisiert. Er stützt sich auf Platons „Timaios“, verortet Atlantis außerhalb der Grenzen der in der Antike bekannten Welt und nennt es „Isle Atlantide“.
Mural Civil War Richmond/VA©MB
Schlachtkarten wurden Anfang des 19. Jahrhunderts
beliebt, z.B. jene der Schlacht bei Waterloo von 1815. Ebenso kamen Propagandakarten
auf, wie 1854 eine Satirekarte von Europa mit den jeweiligen Mächten als
Personen oder Tieren. Auch Kriegsberichterstattung z.B. vom Amerikanischen
Bürgerkrieg, illustriert in Harper’s Weekly (1861), stellt ein interessantes zeitgeschichtliches
Dokument dar. Eher makaber wirkt eine Ghetto-Karte von Warschau.
Für (reiche?) Pilger geschaffen war eine farbenfrohe Kartenrolle zur der Hl. Ka‘bah in Mekka von 1883, die sämtliche Räumlichkeiten genau abbildet. Die erste Fahrradkarte stammt natürlich aus Holland, von 1897. Sie wurde unter dem Titel „Dem Radfahrer dienlich“ auf Leinen gedruckt und in rotem Lederetui verkauft. Ebenfalls ökologisch fortschrittlich war der Erweiterungsplan für Den Haag von Hendrik Berlage. 1908 hat er ein Konzept für eine achteckige internationale Gartenstadt im Norden entworfen.
„Die Freiheit der Meere“ (oben) wurde 1918, kurz vor Ende des ersten Weltkriegs, von der militärischen Stelle des Ausländischen Amtes angefertigt. Es war eine weitere Propagandakarte. Sie zeigt das Vereinigte Königreich als Krake, der seine Tentakel über die Welt ausstreckt und nach Teilen der Erde greift. Sie bezieht sich auf den Rüstungswettlauf zwischen deutscher und britischer Marine und prangert den britischen Expansionsdrang an.
Auf einer Wüstenkarte von 1952 wird die Sahara mit Eintragung der entsprechenden Tiere abgebildet. Eher als Werbung zu verstehen sind dann eine Karte für Jamaika (1954) und eine fantasievoll bunte indische Pilgerkarte von 1960. Komplett aus dem Rahmen fällt gegen Ende des Buches ein Bleiglas-Stadtplan von Leiden von 2007 (Foto unten), im abstrakten Stil der De Stijl-Bewegung. Der Grafikdesigner Jos Agasi hat sie als Hommage an die Kunstschule in den typischen Primärfarben Gelb, Rot und Blau und reduziert auf waagrechte, senkrechte und diagonale Linien geschaffen. Letzter Augenschmaus und allein wegen seiner Kuriosität erwähnenswert: eine chinesische vertikale Weltkarte (2013), bei der die Erde um beide Pole projiziert wird. Europa wird zum Anhängsel, Nordamerika steht auf dem Kopf.
Die Beispiele belegen, dass Karten mehr zeigen als nur Geografie. Und, dass nicht
nur der Westen, sondern auch die arabische, chinesische und japanische Kultur
kartografische Tradition aufweist. Karten können funktional oder dekorativ, sein,
sie dienen beileibe nicht nur der Orientierung und Navigation, sondern auch der Manipulation. In diesem
opulent ausgestatteten Bildband – mit Literaturverzeichnis und Registern im
Anhang – präsentiert ein internationales Team von Historikerinnen und
Historikern unter Ägide von Martijn Storms, Kurator für Karten und
Atlanten der UBL, 1000 Jahre der Weltgeschichte, beeindruckend informativ und schön gestaltet. Ein guter Buchtipp für Weihnachten!