Hängende Dächer und Formen aus der Natur

Frei Otto. Bauen mit der Natur

Hardcover, Pappband, 256 Seiten, 24,0x28,7cm

Prestel Verlag München, 2025

ISBN: 978-3-7913-7749-0

59 €

 

Um es gleich vorwegzunehmen: Dies ist ein Buch für Architekturfans und für Spezialisten, keine leichte Lektüre zum Blättern auf dem Sofa. Anlässlich des 100. Geburtstags am 31. Mai 2025 im Prestel Verlag München erschienen (Hrsg. Anna-Maria Meister und Joaquín Medina Warmburg), geht es um Leben, Werk und Wirkung eines der bedeutendsten und einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts, Frei (Vorname) Otto (Nachname).

 

Ottos visionäre Arbeiten wie auch seine Vorstellungen und Ideen, Philosophien und Hintergründe werden in dieser Publikation in ganzer Bandbreite vorgestellt. Naturbegriff, Naturbilder und Naturprinzipien, die ihn beeinflussten und seine Entwürfe und Bauten prägten, stehen im Vordergrund. Ottos bahnbrechende Pionierleistungen auf heute aktuellen Gebieten wie umweltbewusstes Bauen, Bauen mit der Natur oder Bionik, werden an prägnanten Beispielen demonstriert. Sein oberstes Ziel war es, mit minimalem Einsatz von Material, Fläche und Energie lebenswerte, menschliche Räume zu schaffen und Impulse für ökologisches, humanes Bauen zu geben. Sein ganzheitliches Naturverständnis und seine Neuinterpretation des Verhältnisses von Natur, Technik und Kultur sind der rote Faden des Buches.

 


 

„Das hängende Dach“

1925 in Siegmar/Sachsen geboren, hat Otto den ungewöhnlichen Vornamen seiner Mutter und deren liberaler Gesinnung zu verdanken. Sie war, wie der Vater, Mitglied im Deutschen Werkbund. Vater und Großvater waren Bildhauer, der Sohn studierte nach Wehrdienst und französischer Kriegsgefangenschaft an der TU Berlin Architektur, dann Soziologie und Städtebau an der University of Virginia. In den USA begegnete er auch erstmals Architekturgenies wie F.L. Wright, Eero Saarinen, Mies van der Rohe oder Richard Neutra. 

 

1952 eröffnete Otto in Berlin-Zehlendorf ein eigenes Architekturbüro. Stark beeindruckt hatte ihn ein Modell der Dorton Arena in Raleigh/NC, das erste große Bauwerk mit sattelförmig geschwungenen Dach und aufgehängtem Seilnetz. Er schrieb über diese neue Bautechnik, „Das hängende Dach“, seine Doktorarbeit. Zahlreiche Preise und Ehrungen, posthum nach seinem Tod 2015 auch der Pritzker-Architekturpreis, waren Anerkennung für seine Leistungen.

 


Otto gilt als Pionier ökologischer Architektur und als Wegbereiter einer „menschlichen Architektur“. Er nahm seine Vorbilder aus der Natur. Vor allem wurde er jedoch als Schöpfer genial leichter, zeltartiger Konstruktionen bekannt, sogenannter leichter Flächentragwerke. Sein Herz schlug für den Leichtbau mit Seilnetzen und Gitterschalen. Zudem war er ein Vertreter der organischen Architektur und stellte sich damit in eine Reihe mit Richard Buckminster Fuller oder Santiago Calatrava.

 


Der Deutsche Pavillon der Expo in Montreal 1967 oder das Dach des 1972 eröffneten Olympiastadions in München (Foto unten), in Zusammenarbeit mit Günter Behnisch, sind Beispiele seines Schaffens. Wandelbare Schirme für die Konzerttournee von Pink Floyd 1977 in den USA (Foto oben) und 1990 die Ökohäuser in Berlin (ganz unten) sind andere bekannte Werke des Architekten. Frei Otto war Berater für das Projekt Stuttgart 21, er war für die „Lichtaugen“ – tropfenförmige Oberlichtöffnungen („Kelchstützen“) auf den Bahnsteigen – zuständig. Dabei fungierte Otto meist nur als „Ideengeber“ – die meisten Gebäude entstanden in Kooperation mit anderen Architekten.

 

©WikimediaCommons

 

Natur, Technik und Gesellschaft

Das Buch zum 100. Geburtstag und zum 10. Todestag soll den Architekten, Konstrukteur und Forscher würdigen.  Dies geschieht in einer Reihe von neun Essays zu drei Themenbereichen: Natur, Technik und Gesellschaft. Diesen voraus gehen ein Fototeil und ein Vorwort.

 

Der erste Bereich heißt „NATUR – Biologie, Ökologie, Klima“ und es geht um Ottos Entwicklungsstätte für den Leichtbau in Berlin 1959, um Projekte wie die Evangelische Kirche in Berlin-Zehlendorf 1959-63, sein eigenes Haus und Atelier in Warmbronn 1966-71. Die Natur als Baumeister, Klimahüllen und neue Luftarchitektur sindweitere Themen, die angesprochen werden.

 

„TECHNIK - Konstruktionen, Methoden, Formen“ befasst sich mit den „großen“ Otto-Bauten, dem deutschen Pavillon auf der Expo 67 in Montreal, den Münchner Olympischen Sportstätten 1968-72 oder der Multihalle in Mannheim (1975). Ottos leichte Konstruktionen und Dächer, die Art und Weise, wie er den Weg zum Leichtbau mit Zelten und Membranen ebnete, werden näher beleuchtet. Während einer Gastprofessur in St. Louis/USA hatte Otto 1958 Richard Buckminster Fuller kennengelernt, einen Protagonist des Leichtbaus. Mit diesem einte ihn die Absicht, mit geringstem Material- und Energieaufwand maximale Effizienz zu erzielen. Otto war besessen von Modellen und Modellstatik und das auch noch nachdem in den 1970ern digitale und rechnerische Methoden aufkamen. Der philosophische Ansatz Ottos und die Kluft zwischen Natürlichem und Künstlichem kommen in einem anderen interessanten Essay zur Sprache.

 

Das dritte große Kapitel lautet „GESELLSCHAFT– Ethik, Partizipation, Netzwerke“. Wissenschaftler beschäftigen sich hier zum Beispiel mit seiner Projektstudie „Stadt in der Arktis“ von 1971 und mit seinen  Ökohäusern in Berlin, die 1980-91 entstanden (Foto unten) und bemerkenswerte Lebensqualität boten. Die Überwindung gesellschaftlicher und ökologischer Grenzen zeigen die beiden realisierten Entwürfe am Tiergarten und am Askanischen Platz. Andere Themen sind die Materialexperimente von Frei Otto und seine Architekturlehre. Otto als Pädagoge – er hielt verschiedene Lehraufträge an amerikanischen Universitäten inne – kommt ebenfalls zur Sprache.

 

Den Abschluss des Buches bilden eine Biografie, eine Vorstellung der am Band mitwirkenden Autorinnen und Autoren und ein Abbildungsverzeichnis. Man lernt viel bei der Lektüre dieses Prestel-Bandes, muss allerdings auch bereit sein, sich in ein nicht ganz einfaches Thema zu vertiefen.

 

Text ©MB

Fotos ©PrestelVerlag / WikimediaCommons

KUNST UND NATUR - NOLDES GARTEN IN SEEBÜLL

 

Magdalena Moeller, 

Der Garten von Emil Nolde

Prestel Verlag München, 2025

Hardcover, 176 Seiten, 29 Euro

ISBN: 978-3-7913-7777-3

 

 

Ein Fest für Augen und Seele

Natur und Kunst im Garten von Emil Nolde in Seebüll ist das Thema dieses neu im Prestel Verlag erschienenen Bandes. Die Kunsthistorikerin und Fotografin Magdalena M. Moeller beschäftigt sich mit der Geschichte dieses Künstlergartens, mit dem Einfluss auf Noldes Werk und dessen Liebe zur Natur, vor allem aber mit dem Garten im Jahresverlauf. Reich bebildert mit Fotos und Reproduktionen von Noldes Werken, regt der Band sowohl Kunstfreunde als auch Hobbygärtner zum Lesen und Durchblättern an.

 

Künstlergärten gab es viele, z.B. ließen sich auch Liebermann, Monet oder Renoir von der Natur inspirieren. Auch Emil Nolde (1867-1956) verband Malerei und Gärtnerei, holte sich Anregungen von Farbenpracht und Blütenfülle für seine Blumengemälde und Aquarelle. Der Garten, heute Teil des Nolde Museums, liegt in Seebüll, in Nordfriesland, fast schon an der Grenze zu Dänemark. Das Ehepaar Emil und Ada Nolde hatte sich hier ab 1926 auf einer Warft, einem aufgeschütteten Hügel inmitten eines Marschgebiets, niedergelassen.


Vorausgeschickt wird dem Buch ein Plan des Blumengartens (der aber mehr ist als nur das!). Er schließt sich im Südwesten des Wohnhauses/Museum an, begrenzt durch die Gruft des Ehepaars am anderen Ende des Geländes, wo sich auch der Eingang befindet. Es gibt Insel-, Hügel-, Balken- und Kastenbeete, solche für Wildrosen, Tulpen oder Rudbeckien, und dazu Baumbestände – Laubbäume, aber auch Apfelbäume und Stachelbeeren.

 

Entstehung eines Künstlergartens

 

Die Geschichte von Emil Noldes Garten in Seebüll gibt Informationen darüber, wie die Noldes ans Werk gingen. Von Utenwarf, wo das Ehepaar 1914 ein baufälliges nordfriesisches Backsteinhaus erworben hatte, zog man 1926 ins nahe Seebüll, und legte nach dem Atelierbau gleich den Garten an, noch ehe das Haus bezugsfertig war. Die Gartenplanung erwies sich zunächst aufgrund der Gegebenheiten als schwierig, doch die Buchstaben A und E – für Ava und Emil – für die Beetformen brachten dann die Initialzündung. Als problematisch erwiesen sich der schwere Marschboden, der zu Verdichtung neigte, und die harschen klimatischen Bedingungen. Entwässerung war nötig, außerem Windschutz und Beachtung der Mikroklimate. 

Nolde führte Buch über Bäume und Pflanzen, Konstruktionen und Baumaßnahmen. Ergebnis war ein 2.000 qm großer zentraler Gartenbereich mit Blumenbeeten – ähnlich einem klassischen Bauerngarten, auch bezüglich der Pflanzenauswahl, aber ohne Mittelachse –, zentral das ovale Wasserbecken als Vogeltränke, dazu Baumreihen. Wichtig waren für den Künstler immer die Blickachsen und die Blütenvielfalt. Außer den sog. Buchstabenbeeten entstanden Kastenbeet und Hügelbeetstreifen und wurden Stauden und Sommerblumen, Zwiebelblühern, Büschen und Bäumen gepflanzt. Dank der ab den 1930ern zahlreich publizierten Versandkataloge war es ein Leichtes, vielerlei Sorten zu ordern.

 

 

Noldes Garten ist in erster Linie ein Ziergarten, der von April bis Ende Oktober sein volles Blütenspektrum zeigt. Gemüse war den Noldes unwichtig, Obstbäume und Beerenobst sind hingegen vertreten. Ada starb 1946, Emil selbst zehn Jahre später; beide sind in einer Gruft am Rand des Gartens bestattet. 2004 bis 2007 wurde der Garten wiederhergestellt, seit 2010 kann er wieder besucht werden. Historische Aufnahmen im Anschluss - Schwarzweiß-Fotos – zeigen den Garten zu Lebzeiten Noldes, des Öfteren sieht man auf ihnen auch das Künstlerehepaar.

Blumen und Bilder

Moeller stellt ausgewählte Werke Emil Noldes ihren eigenen Pflanzenaufnahmen gegenüber und schafft eine Symbiose von Malerei und Fotografie, Kunst und Natur. Blüten wie Mohn, Pfingstrosen, Sonnenblumen, Tulpen oder Dahlien, dienten als beliebtes Anschauungsmaterial. Noldes langjähriger Gärtner berichtet, dass der Künstler suchend von Blüte zu Blüte gewandelt sei, sie eingehend betrachtet hätte, ehe er sich dann die Staffelei aus der Werkstatt holen und aufstellen ließ und schnell und intensiv an einem Bild arbeitete. War es fertig, wurde es hineingebracht und von ihm und Ada begutachtet.

 

Die meisten Blumenbilder entstanden in den letzten 30 Jahren seines Lebens in Seebüll, zuletzt in Aquarelltechnik. Mohn (Papaver) war eine seiner Lieblingsblumen. Die Bilder, in einer besonderen Technik auf feuchtem Papier angefertigt, zeigen zerfließende Farben und ausfransende Ränder und wirken alle sehr spontan und leuchtend. 

 

 

 


 


Noldes Garten von April bis Oktober


Im umfangreichen Hauptteil des Buches begleitet Moeller die heutigen Gärtner bei ihrer Arbeit. Mit Text und vor allem vielen Fotos geht es um den Nolde-Garten im Wechsel der Jahreszeiten. Man sieht die saisonal bedingten Farb- und Höhenwechsel, die allmähliche Steigerung der Blütenpracht zum Sommer hin, die explodierende Vielfalt. Typische Stauden, die Nolde liebte, sind Mohn, Rittersporn, Taglilien, Margeriten, Sonnenbraut, Sonnenhut, Dahlien und Sonnenblumen.

 


Der Maler, ausgebildet als Holzbildhauer und Zeichner in Flensburg, sah sich, obwohl dänischer Staatsbürger, ab 1933 zunehmenden Angriffem der Nationalsozialisten ausgesetzt. 1937 wurden seine Werke beschlagnahmt und in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München gezeigt. Das und vieles mehr ist der kurzen Biografie, die auf die Gartenkapitel folgt, zu entnehmen.

 

Abschließend geht es um die „30 schönsten Blumen in Noldes Garten“. Sie werden alphabetisch mit Fotos gelistet, von Akelei, Bauernpfingstrose, Dahlie über Pfingstrose, Eisenhut, Indianernessel bis hin zu Orientalischem Mohn, Rittersporn, Schwertlilie, Taglilie und Sonnenblume – jeweils mit Herkunft, Blüte, Standort und besonderen Hinweisen. 

Ein bisschen schade ist, dass es leider keine Angaben dazu gibt, inwieweit die heutige Gartenbepflanzung noch jener ursprünglichen Noldes entspricht und ob dieser bzw. wie genau dieser selbst Details, wie die Namen von Arten notiert hat. Es wird erwähnt, dass ältere Sorten, die nicht mehr im Handel sind, durch neue, ähnliche ersetzt werden, doch unklar bleibt, ob es jemals exakte Pflanzlisten gab. Gerade bei Stauden wie Ritterspornen, Pfingstrosen oder auch Sonnenblumen gibt es so viele, teils sehr verschiedene Arten, dass es interessant gewesen wäre, zu wissen, welche genau Nolde ausgewählt hat. Immerhin lebte einer der größten deutschen Staudenzüchter, Karl Förster (1874-1970), der vielen der von Nolde geliebten Stauden erst die gebührende Rolle zumaß, zur etwa gleichen Zeit wie dieser (siehe auch: https://travelingbookworms.blogspot.com/2024/04/die-welt-ist-viel-zu-bunt-um-allzu.html).

 

Den Anhang bilden Literaturhinweise, Informationen zu Autorin und Fotografin und Fakten zum Nolde Museum Seebüll.  Das Buch ist hochwertig gestaltet, der Druck von guter Qualität. Der Band gibt Anregungen dazu, wie künstlerische Visionen in die Praxis umgesetzt werden können und liefert Inspiration für die Gestaltung des eigenen Gartens. 


©Text: MB     ©Fotos: PrestelVerlag

Ein Haufen Dollarscheine



Esther Dischereit

Ein Haufen Dollarscheine – Roman

Maro Verlag Augsburg

312 Seiten, Umschlag Beate Maria Wörz

Hardcover ISBN  978-3-87512-676-1 24 €

 

Der Roman von Esther Dischereit war nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2025, der am 27. März 2025 vergeben wurde. Zwar gewann eine andere Autorin, Kristine Bilkau mit „Halbinsel“, den Preis, doch „Ein Haufen Dollarscheine“ ist auch ohne Auszeichnung ein interessanter, zum Nachdenken anregender Roman.

 

Nein, es ist kein „einfach“ zu lesendes Buch, sicher kein „Easy-Reading“: »Ein Haufen Dollarscheine« schildert ein etwas verschrobenes Familien­szenario, spinnt eine verwirrende Geschichte mit ständig wechselnden Personen und Orten. Die Hauptakteure gehören zu einer Großfamilie, die zerstreut in der ganzen Welt lebt: in Berlin, ­Chicago, ­Heppenheim, Rom und anderen Orten, die im Anhang in einem Verzeichnis (ebenso wie die vielen, großteils anonymen Personen) gelistet werden. Es geht vor allem um die Tante in ihrem blumengemustertem Kleid, die in der Flug­hafenlounge Kekse in die Tasche stopft und der Vergangenheit nachhängt.

 

Die Autorin Esther Dischereit lebt in Berlin. Sie schreibt Prosa, Lyrik und Essays und ist Autorin von Theater- und Hörstücken vorwiegend zu jüdischen Themen. Sie gilt als eine der wichtigsten Stimmen unter den Nachkommen der Shoa-Überlebenden in Deutschland. Dischereits Erzählweise ist weder chronologisch noch linear, eher assoziativ und formlos, sie spielt mit Eindrücken und Gefühlen und gibt Denkanstöße.

 

Die Autorin (©Wikimedia Commons)

Geschildert wird die Geschichte einer jüdischen Familie im weitesten Sinne, erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven, wobei thematische und auch biografische Fragmente verschiedenster Art eingeflochten werden. Es ist eine etwas absurde Geschichte mit ernstem Hintergrund, getragen von zwei Figuren, die namenlos bleiben und im Wechsel erzählen: Die Mutter und die „Tante“. Und dann wären da noch deren Neffen. Ein Neffe ist der Sohn der älteren Schwester der Erzählerin, die den Holocaust mit ihrer Mutter im Versteck überlebt hat.

 

Der Roman schildert halb dokumentarisch, halb fiktional das Nachleben von Shoa-Überlebenden, den Konflikt, in dem sie sich bis heute befinden, die unterschiedlichen Identitäten, die sie annehmen. Unrecht aller Art, Heuchelei, Erbschleicherei und behördlichen Schikanen, sogenannte Wiedergutmachungszahlungen, nicht-entschädigte Zwangsarbeit, aber auch innerjüdische Machtpolitik und jüdische Bankdepots, die vor dem Krieg angelegt wurden, kommen zur Sprache. Es geht um den Konflikt zwischen Voll-, Vaterjuden, Halbjuden, Vierteljuden und um die zwanghaftige Rechtfertigung, die von Juden erwartet wird: Wer ist Befreier, wer Unterdrücker? Arisierung als „normal“ zu betrachten ist illegal.

 

Der Titel „Ein Haufen Dollarscheine“ bezieht sich auf die die lose aufgehäuften Episoden und Gedankengänge, aber auch auf Bankdepots, Erbschaften und Wohlstand, und ist ein äußerst lesenswertes Buch.

 

Infos: www.maroverlag.de/prosa/282-ein-haufen-dollarscheine-9783875126761.html

Pilotin und mutige Frau: Amelia Earnhart


Joe Lendle, Die Himmelsrichtungen

Hardcover, mit Schutzumschlag, 256 Seiten, 13,5x21,5cm

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH München 2024

ISBN: 978-3-328-60379-5

24 €

„Von oben sah das Land aus wie eine von Großmutters Suppen. Seen schwammen in der Gegend wie Fettaugen. Weiße Brocken mochten Felsen sein oder Kartoffeln. Grüne Streifen aus Hecken, aus Schnittlauch. Niemand war da, der mich zurückrief. Zu sehen, wie das Blau in der Höhe allmählich dunkler wurde, versetzte mich in eine Art Rausch.“ (Zitat aus dem Roman)

 

„Solange ich rede, bin ich am Leben. Solange ich fliege. Die letzte Gewissheit, die mir bleibt: Wenn ich niemals lande, werde ich nicht gestorben sein“. Auch diese Worte stammen von Amelia Earhart, jener berühmten Flugpionierin, die 1937 versuchte, die Erde zu umrunden und dabei spurlos verschwand.

 


Vom wilden Kind zur Pilotin und Frauenrechtlerin

Geboren am 24. Juli 1897 in Atchison im US-Bundesstaat Kansas (Geburtshaus li. Foto, ©Kansas Tourism), war Amelia ein wildes Kind. Sie begann nach der Highschool Medizin zu studieren, brach jedoch ab und kehrte zu ihren Eltern nach Los Angeles zurück, um deren zerrüttete Ehe zu retten. 1920 flog sie erstmals in einem Flugzeug und fasste den Entschluss selbst fliegen zu lernen. Viele verschiedene Jobs halfen ihr, die Lizenz zu finanzieren und 1921 nahm sie ihre erste Flugstunde bei der Pilotin Neta Snook (1896-1991). Sechs Monate später kaufte sie sich ihr erstes Flugzeug, eine Zweisitzer-Maschine mit offenem Cockpit, die sie The Canary (Kanarienvogel) nannte und mit der sie kurz darauf einen Höhenweltrekord für Frauen von 4.300 m aufstellte.

 

Im Juni 1928 überquerte sie in 20 Stunden mit einem Flugzeug den Atlantik – und erlangte damit internationale Berühmtheit. Dabei war sie „nur“ die erste Frau, die den Atlantik nonstop als Passagierin überquert hatte: „Ich war nur Gepäck, wie ein Sack Kartoffeln“, sagte sie damals, „vielleicht werde ich es eines Tages allein versuchen.“ Im folgenden Jahr nahm sie am ersten Cleveland Women’s Air Derby (auch „Puderquastenrennen“ genannt) teil, unterstützt vom New Yorker Verleger George Palmer Putnam, den sie später heiratete. Das Rennen missfiel ihr und 1929 gründete Earhart mit vier anderen bekannten Pilotinnen den Club der Ninety Nines, mit dem Ziel, Frauen in der Luftfahrt zu fördern. Heute ist der Club mit mehr als 5000 Mitgliedern die größte Pilotinnenvereinigung mit Sektionen in fast allen Ländern der Welt.

 

Ausstellung im Seattle Museum of Flight ©MB
Earharts letzter Flug

1931 heiratete sie „widerstrebend“ ihren Verehrer, George Putnam unter der sehr modernen Prämisse eine offene Ehe ohne Zwänge zu führen. Im Mai 1932, fünf Jahre nach Charles Lindbergh, überquerte sie als erste Frau den Atlantik im Alleinflug. Von Harbor Grace in Neufundland bis nach Paris war der Plan, doch in ihrer modifizierten Lockheed Vega 5B (heute im National Air & Space Museum in Washington DC zu sehen), „Little Red Bus“ genannt, landete wegen schlechten Wetters und technischer Probleme in Londonderry/Nordirland. Dennoch brachten ihr 15 Stunden in der Luft und 3260 Kilometer Ruhm und Ehre ein, darunter die Goldmedaille der National Geographic Society ein, überreicht vom damaligen US-Präsidenten Herbert Hoover.

 

©Amelia Earhart Hangar Museum Atchison
Am 11. Januar 1935 überflog sie als erster Mensch im Alleinflug den Pazifik zwischen Honolulu und Oakland/CA und im selben Jahr absolvierte sie den ersten Soloflug von Mexico City nach Newark/NY.  Ihr nächstes Ziel war vor ihrem 40. Geburtstag, als erster Mensch, die Erde am Äquator zu umrunden.  1937 saß Earhart selbst am Steuer ihrer „Muriel“, einer Lockheed Modell 10 Electra (Foto links), Navigator war Fred Noonan. Der zweite Start (der erste Versuch war vorzeitig gescheitert) erfolgte am 21. Mai in Miami, man landete in Brasilien, Westafrika, Kalkutta und Rangun. Am 2. Juli hob sie in Neuguinea ab mit geplantem Stopp auf der kleinen Howlandinsel. Dann verliert sich die Spur, das Flugzeug gilt seither als verschollen. Auch eine große von Präsident F.D. Roosevelt und seiner Frau initiierte Suchaktion mit 64 Flugzeugen und acht Kriegsschiffen blieb ergebnislos und Earhart wie Noonan wurden am 5.1.1939 für tot erklärt. Eine Reihe von Hobby-Forschern und Wissenschaftlern suchen seit Jahren Earharts Flugzeug. Inzwischen hat man noch nicht völlig bewiesene Anhaltspunkte gefunden: ein „Sonar-Bild eines flugzeugförmigen Objekts“ ...

Romankomposition à la Bach

 

Jo Lendle (* 1968), der Autor dieses Romans, studierte Literatur, Kulturwissenschaften und Philosophie. Er erzählt die Geschichte aus der Sicht Earharts, einer Heldin, die keine Heldin sein will. Er erzählt die Geschichte rückwärts, vom letzten Tag ihres Lebens bis zur Kindheit. Die Überschriften der einzelnen Kapitel „Ouverture 1937“, „Courante 20./21. April 1933“, „Sarabande 1928 etc.“ oder „Prélude Viel Früher. 1902 und folgende“ legen eine Beziehung zu den französischen Suiten von Johann Sebastian Bach nahe, ein Zyklus von sechs stilisierten instrumentalen Tanzstücken vom Anfang des 18. Jahrhunderts.

 

Wer über Amelia Earhart nicht viel weiß, tut sich zu Anfang etwas schwer mit der Art des Erzählstrangs, der Reihenfolge der Kapitel. Das Buch startet mit ihrer Gegenwart und zeigt die Schwierigkeiten auf, die sie als Frau erlebt. Die Story endet in ihrer Kindheit, wo man mehr über ihre Motivation mit dem Fliegen zu beginnen, erfährt. Es gibt  viele interessante Situationen und Dialoge, hauptsächlich über das Fliegen, über die Stellung von Mann und Frau, über das typische Frauenbild der Zeit und über Gefühle.

 

Porträt einer mutigen, unprätentiösen Frau

©Wikimedia Commons

Die Geschichte wird im Buch von Amelia Earhart selbst erzählt, aus der Ich-Perspektive, basierend auf ihre eigenen Aufzeichnungen. Resultat ist das Porträt einer mutigen, unprätentiösen Frau, die mit einer gewissen Sturheit ihren eigenen Weg ging und letztlich 1937 starb. Gleichzeitig handelt es sich um eine Art Liebesgeschichte mit wechselnden Beteiligten: Zum einen wäre da ihr langjähriger Verehrer und Mentor, der mächtige und reiche Verleger George P. Putnam, zum anderen Eleanore Roosevelt, Ehefrau des Präsidenten F.D. Roosevelt. Im Roman fabuliert Lendle eine emotionale Beziehung zwischen beiden Frauen hinzu, mehr als eine normale Freundschaft, die sich nicht nur auf kleine „Spritztouren“ zum Fliegen während Staatsdiners beschränkte.

Das Buch ist beste Unterhaltung. Es widmet sich dem Leben der Luftfahrtpionierin, Dichterin und feministischen Vorkämpferin Amelia Earhart. Lendle geht so weit, zu behaupten, Earhart habe letztlich das Buch selbst geschrieben. Tatsache ist, dass ein guter Teil des Romans sich auf Amelia Earharts Schriften, Logbücher, Überlieferungen, auf ihre Gedichte und Briefe stützt. Wer mehr optische Anreize benötigt sei auf die Verfilmung von Earharts Leben im Film „Amelia“ (2009) von Mira Nair, mit Hilary Swank als Pilotin und Richard Gere als Ehemann, empfohlen.

 

Karten und Geschichte

 

Martijn Storms (Hrsg.)

Karten - Ein Atlas der Weltgeschichte

432 Seiten

Gebunden, 28,0 x 34,0 cm

€ 99,00 [D] / € 101,80 [A] / CHF 127,00

ISBN 978-3-7913-8048-3

Prestel Verlag München

Oktober 2024

 

 

Mit dem Finger auf der Landkarte auf Weltreise gehen – wer hat das nicht schon mal gemacht? Eine Karte macht die Welt lebendig, regt die Vorstellung an, erweckt Neugierde und Fernweh. Historische Karten lassen uns dazu in die Vergangenheit eintauchen und alte Welten wiederauferstehen. 

Unibibliothek Leiden um 1610 ©WikiCommons-
 

Bei dem im Prestel Verlag erschienenen Band hat man mit über drei Kilo durchaus etwas in der Hand, viele Karten und noch mehr historische Information. Anhand von 100 ausgewählten Karten aus zehn Jahrhunderten Weltgeschichte geht es in dem Buch weniger um Kartenzeichner und die Wissenschaft an sich als um die historische Bedeutung von Karten. Die Karten stammen aus der umfangreichen Sammlung der Universitätsbibliothek Leiden (UBL), deren Grundstock 1872 mit dem Erbe des Kartensammlers Johannes Tiberius Bodel Nijenhuis gelegt wurde. 

 

Obwohl die ersten vier Seiten des Buches mit einer Zeitleiste das historische Interesse wecken, geht es nicht darum, eine umfassende Weltgeschichte zu präsentieren. Man ist bemüht um größtmögliche Vielfalt, allerdings herrscht zwangsläufig, aufgrund der Herkunft der Sammlung, vor allem eine westliche, wenn nicht sogar niederländische Perspektive vor. Es geht um historische Karten, die vielfach den Lauf der Geschichte mitbestimmt haben und Zeugnis von der kolonialen Vergangenheit der Niederlande und anderer europäischer Länder ablegen. 

 

Schön sind die verschiedenen Kartentypen: Weltkarten – bei denen der Kartograf ja häufig sein eigenes Land in den Mittelpunkt rückt –,  Karten zu Religion und Sprache, Mythologie, Wirtschaft, Straßenbau, Stadtentwicklung und vielen anderen Aspekten. Die älteste Karte in der UBL (und im Buch) datiert um 800, es ist ein einfaches Diagramm der im Mittelalter in Europa bekannten Welt, wie sie häufig in Klöstern als Teil von mittelalterlichen Handschriften angefertigt wurden. Dass Karten müssen nicht rechtwinklig sein müssen, sondern z.B. in Gestalt eines Vogels vorkommen, sieht man an einer, die 1193 die islamische Welt dargestellte. 

 


Um Afrika herum nach Asien –  1490, als diese Karte (oben) entstand, war ein Wandel des europäischen Weltbilds eingetreten. Es war die Zeit der spanischen und portugiesischen Expeditionen, auf der Suche nach neuen Seerouten. Die Karte von Henricus Martellus zeigt die Welt kurz nach Bartolomeu Dias‘ bahnbrechender Fahrt 1488. Ihm war es als Erstem gelungen, das Kap der Guten Hoffnung zu umrunden. Damit war die Seeroute nach Asien in Reichweite gerückt, eine bessere und risikoärmere Alternative zu der über das Rote Meer. 

 

Es gibt im Buch Stadtpläne von Leiden und Den Haag, aber auch einen sehr detaillierten von 1593 von Jerusalem, aus einem Kartenbuch vom Heiligen Land, oder auch einen interessanten Plan vom antiken Rom. Von 1600 stammt eine Seekarte, die den Atlantik zeigt, „auf dem Rücken eines Tieres“ – nach der Form und der Größe von 100x80 cm; sie ist auf Pergament gedruckt und steht für den Anfang der holländischen Seekartenproduktion. 

 

Globus Schloss Hellbrunn©MB
Ebenfalls neu: die Amsterdamer Globusproduktion, die durch eine Karte von 1621 (Johannes Janssonius) vertreten ist. Mit der Entwicklung des Fernrohrs Anfang des 17. Jh. kommt auch die Kartierung des Mondes in Gang, wie eine Karte von 1645 zeigt. Wenig später erreicht der Wettbewerb unter den Weltatlanten mit dem Erscheinen des "Atlas Maior" von Blaeu mit über 600 Karten in neun Teilen seinen Höhepunkt. 1698 erhält man erstmals „Afrika an der Wand“ – Wandkarten, aufwändig mit Kupferplatten gefertigt. Sie werden zum Symbol für Kolonialismus und Sklavenhandel. 

 

In das Genre der linguistischen Kartografie fällt eine Sprachkarte des Vaterunsers von 1741 von Gottfried Hensel. Er trägt auf eine Karte von vier Kontinenten jeweils die ersten Zeilen des Vaterunsers in der Landessprache ein. Tierkarten – ein anderer Kartentyp – werden z.B. in Form einer Elefantenkarte von Ceylon vorgeführt, es gibt Plantagenkarten und koloniale Sprachkarten, und eine meterlange Manuskriptkarte zum Kanal von Aragonien von 1771. Ebenso ungewöhnlich ist eine Routenkarte für den chinesischen Kaiser von 1784.

 


Die Suche nach Atlantis hat seit Ewigkeitenn die Menschheit beschäftigt. Der sagenumwobene Kontinent, der im Meer versunken sein soll, wird auf einer Karte von Maximilien-Henri de Saint-Simon (Marquis de Sandricourt) 1785 lokalisiert. Er stützt sich auf Platons „Timaios“, verortet Atlantis außerhalb der Grenzen der in der Antike bekannten Welt und nennt es „Isle Atlantide“. 

 

Mural Civil War Richmond/VA©MB

Schlachtkarten wurden Anfang des 19. Jahrhunderts beliebt, z.B. jene der Schlacht bei Waterloo von 1815. Ebenso kamen Propagandakarten auf, wie 1854 eine Satirekarte von Europa mit den jeweiligen Mächten als Personen oder Tieren. Auch Kriegsberichterstattung z.B. vom Amerikanischen Bürgerkrieg, illustriert in Harper’s Weekly (1861), stellt ein interessantes zeitgeschichtliches Dokument dar. Eher makaber wirkt eine Ghetto-Karte von Warschau.

 

Für (reiche?) Pilger geschaffen war eine farbenfrohe Kartenrolle zur der Hl. Ka‘bah in Mekka von 1883, die sämtliche Räumlichkeiten genau abbildet. Die erste Fahrradkarte stammt natürlich aus Holland, von 1897. Sie wurde unter dem Titel  „Dem Radfahrer dienlich“ auf Leinen gedruckt und in rotem Lederetui verkauft. Ebenfalls ökologisch fortschrittlich war der Erweiterungsplan für Den Haag von Hendrik Berlage. 1908 hat er ein Konzept für eine achteckige internationale Gartenstadt im Norden entworfen.

 


„Die Freiheit der Meere“ (oben) wurde 1918, kurz vor Ende des ersten Weltkriegs, von der militärischen Stelle des Ausländischen Amtes angefertigt.  Es war eine weitere Propagandakarte. Sie zeigt das Vereinigte Königreich als Krake, der seine Tentakel über die Welt ausstreckt und nach Teilen der Erde greift. Sie bezieht sich auf den Rüstungswettlauf zwischen deutscher und britischer Marine und prangert den britischen Expansionsdrang an. 

 

Auf einer Wüstenkarte von 1952 wird die Sahara mit Eintragung der entsprechenden Tiere abgebildet. Eher als Werbung zu verstehen sind dann eine Karte für Jamaika (1954) und eine fantasievoll bunte indische Pilgerkarte von 1960. Komplett aus dem Rahmen fällt gegen Ende des Buches ein Bleiglas-Stadtplan von Leiden von 2007 (Foto unten), im abstrakten Stil der De Stijl-Bewegung. Der Grafikdesigner Jos Agasi hat sie als Hommage an die Kunstschule in den typischen Primärfarben Gelb, Rot und Blau und reduziert auf waagrechte, senkrechte und diagonale Linien geschaffen. Letzter Augenschmaus und allein wegen seiner Kuriosität erwähnenswert: eine chinesische vertikale Weltkarte (2013), bei der die Erde um beide Pole projiziert wird. Europa wird zum Anhängsel, Nordamerika steht auf dem Kopf. 

 


Die Beispiele belegen, dass Karten mehr zeigen als nur Geografie. Und, dass nicht nur der Westen, sondern auch die arabische, chinesische und japanische Kultur kartografische Tradition aufweist. Karten können funktional oder dekorativ, sein, sie dienen beileibe nicht nur der Orientierung und Navigation, sondern auch der Manipulation.  In diesem opulent ausgestatteten Bildband – mit Literaturverzeichnis und Registern im Anhang – präsentiert ein internationales Team von Historikerinnen und Historikern unter Ägide von Martijn Storms, Kurator für Karten und Atlanten der UBL, 1000 Jahre der Weltgeschichte, beeindruckend informativ und schön gestaltet. Ein guter Buchtipp für Weihnachten!