Karten und Geschichte

 

Martijn Storms (Hrsg.)

Karten - Ein Atlas der Weltgeschichte

432 Seiten

Gebunden, 28,0 x 34,0 cm

€ 99,00 [D] / € 101,80 [A] / CHF 127,00

ISBN 978-3-7913-8048-3

Prestel Verlag München

Oktober 2024

 

 

Mit dem Finger auf der Landkarte auf Weltreise gehen – wer hat das nicht schon mal gemacht? Eine Karte macht die Welt lebendig, regt die Vorstellung an, erweckt Neugierde und Fernweh. Historische Karten lassen uns dazu in die Vergangenheit eintauchen und alte Welten wiederauferstehen. 

Unibibliothek Leiden um 1610 ©WikiCommons-
 

Bei dem im Prestel Verlag erschienenen Band hat man mit über drei Kilo durchaus etwas in der Hand, viele Karten und noch mehr historische Information. Anhand von 100 ausgewählten Karten aus zehn Jahrhunderten Weltgeschichte geht es in dem Buch weniger um Kartenzeichner und die Wissenschaft an sich als um die historische Bedeutung von Karten. Die Karten stammen aus der umfangreichen Sammlung der Universitätsbibliothek Leiden (UBL), deren Grundstock 1872 mit dem Erbe des Kartensammlers Johannes Tiberius Bodel Nijenhuis gelegt wurde. 

 

Obwohl die ersten vier Seiten des Buches mit einer Zeitleiste das historische Interesse wecken, geht es nicht darum, eine umfassende Weltgeschichte zu präsentieren. Man ist bemüht um größtmögliche Vielfalt, allerdings herrscht zwangsläufig, aufgrund der Herkunft der Sammlung, vor allem eine westliche, wenn nicht sogar niederländische Perspektive vor. Es geht um historische Karten, die vielfach den Lauf der Geschichte mitbestimmt haben und Zeugnis von der kolonialen Vergangenheit der Niederlande und anderer europäischer Länder ablegen. 

 

Schön sind die verschiedenen Kartentypen: Weltkarten – bei denen der Kartograf ja häufig sein eigenes Land in den Mittelpunkt rückt –,  Karten zu Religion und Sprache, Mythologie, Wirtschaft, Straßenbau, Stadtentwicklung und vielen anderen Aspekten. Die älteste Karte in der UBL (und im Buch) datiert um 800, es ist ein einfaches Diagramm der im Mittelalter in Europa bekannten Welt, wie sie häufig in Klöstern als Teil von mittelalterlichen Handschriften angefertigt wurden. Dass Karten müssen nicht rechtwinklig sein müssen, sondern z.B. in Gestalt eines Vogels vorkommen, sieht man an einer, die 1193 die islamische Welt dargestellte. 

 


Um Afrika herum nach Asien –  1490, als diese Karte (oben) entstand, war ein Wandel des europäischen Weltbilds eingetreten. Es war die Zeit der spanischen und portugiesischen Expeditionen, auf der Suche nach neuen Seerouten. Die Karte von Henricus Martellus zeigt die Welt kurz nach Bartolomeu Dias‘ bahnbrechender Fahrt 1488. Ihm war es als Erstem gelungen, das Kap der Guten Hoffnung zu umrunden. Damit war die Seeroute nach Asien in Reichweite gerückt, eine bessere und risikoärmere Alternative zu der über das Rote Meer. 

 

Es gibt im Buch Stadtpläne von Leiden und Den Haag, aber auch einen sehr detaillierten von 1593 von Jerusalem, aus einem Kartenbuch vom Heiligen Land, oder auch einen interessanten Plan vom antiken Rom. Von 1600 stammt eine Seekarte, die den Atlantik zeigt, „auf dem Rücken eines Tieres“ – nach der Form und der Größe von 100x80 cm; sie ist auf Pergament gedruckt und steht für den Anfang der holländischen Seekartenproduktion. 

 

Globus Schloss Hellbrunn©MB
Ebenfalls neu: die Amsterdamer Globusproduktion, die durch eine Karte von 1621 (Johannes Janssonius) vertreten ist. Mit der Entwicklung des Fernrohrs Anfang des 17. Jh. kommt auch die Kartierung des Mondes in Gang, wie eine Karte von 1645 zeigt. Wenig später erreicht der Wettbewerb unter den Weltatlanten mit dem Erscheinen des "Atlas Maior" von Blaeu mit über 600 Karten in neun Teilen seinen Höhepunkt. 1698 erhält man erstmals „Afrika an der Wand“ – Wandkarten, aufwändig mit Kupferplatten gefertigt. Sie werden zum Symbol für Kolonialismus und Sklavenhandel. 

 

In das Genre der linguistischen Kartografie fällt eine Sprachkarte des Vaterunsers von 1741 von Gottfried Hensel. Er trägt auf eine Karte von vier Kontinenten jeweils die ersten Zeilen des Vaterunsers in der Landessprache ein. Tierkarten – ein anderer Kartentyp – werden z.B. in Form einer Elefantenkarte von Ceylon vorgeführt, es gibt Plantagenkarten und koloniale Sprachkarten, und eine meterlange Manuskriptkarte zum Kanal von Aragonien von 1771. Ebenso ungewöhnlich ist eine Routenkarte für den chinesischen Kaiser von 1784.

 


Die Suche nach Atlantis hat seit Ewigkeitenn die Menschheit beschäftigt. Der sagenumwobene Kontinent, der im Meer versunken sein soll, wird auf einer Karte von Maximilien-Henri de Saint-Simon (Marquis de Sandricourt) 1785 lokalisiert. Er stützt sich auf Platons „Timaios“, verortet Atlantis außerhalb der Grenzen der in der Antike bekannten Welt und nennt es „Isle Atlantide“. 

 

Mural Civil War Richmond/VA©MB

Schlachtkarten wurden Anfang des 19. Jahrhunderts beliebt, z.B. jene der Schlacht bei Waterloo von 1815. Ebenso kamen Propagandakarten auf, wie 1854 eine Satirekarte von Europa mit den jeweiligen Mächten als Personen oder Tieren. Auch Kriegsberichterstattung z.B. vom Amerikanischen Bürgerkrieg, illustriert in Harper’s Weekly (1861), stellt ein interessantes zeitgeschichtliches Dokument dar. Eher makaber wirkt eine Ghetto-Karte von Warschau.

 

Für (reiche?) Pilger geschaffen war eine farbenfrohe Kartenrolle zur der Hl. Ka‘bah in Mekka von 1883, die sämtliche Räumlichkeiten genau abbildet. Die erste Fahrradkarte stammt natürlich aus Holland, von 1897. Sie wurde unter dem Titel  „Dem Radfahrer dienlich“ auf Leinen gedruckt und in rotem Lederetui verkauft. Ebenfalls ökologisch fortschrittlich war der Erweiterungsplan für Den Haag von Hendrik Berlage. 1908 hat er ein Konzept für eine achteckige internationale Gartenstadt im Norden entworfen.

 


„Die Freiheit der Meere“ (oben) wurde 1918, kurz vor Ende des ersten Weltkriegs, von der militärischen Stelle des Ausländischen Amtes angefertigt.  Es war eine weitere Propagandakarte. Sie zeigt das Vereinigte Königreich als Krake, der seine Tentakel über die Welt ausstreckt und nach Teilen der Erde greift. Sie bezieht sich auf den Rüstungswettlauf zwischen deutscher und britischer Marine und prangert den britischen Expansionsdrang an. 

 

Auf einer Wüstenkarte von 1952 wird die Sahara mit Eintragung der entsprechenden Tiere abgebildet. Eher als Werbung zu verstehen sind dann eine Karte für Jamaika (1954) und eine fantasievoll bunte indische Pilgerkarte von 1960. Komplett aus dem Rahmen fällt gegen Ende des Buches ein Bleiglas-Stadtplan von Leiden von 2007 (Foto unten), im abstrakten Stil der De Stijl-Bewegung. Der Grafikdesigner Jos Agasi hat sie als Hommage an die Kunstschule in den typischen Primärfarben Gelb, Rot und Blau und reduziert auf waagrechte, senkrechte und diagonale Linien geschaffen. Letzter Augenschmaus und allein wegen seiner Kuriosität erwähnenswert: eine chinesische vertikale Weltkarte (2013), bei der die Erde um beide Pole projiziert wird. Europa wird zum Anhängsel, Nordamerika steht auf dem Kopf. 

 


Die Beispiele belegen, dass Karten mehr zeigen als nur Geografie. Und, dass nicht nur der Westen, sondern auch die arabische, chinesische und japanische Kultur kartografische Tradition aufweist. Karten können funktional oder dekorativ, sein, sie dienen beileibe nicht nur der Orientierung und Navigation, sondern auch der Manipulation.  In diesem opulent ausgestatteten Bildband – mit Literaturverzeichnis und Registern im Anhang – präsentiert ein internationales Team von Historikerinnen und Historikern unter Ägide von Martijn Storms, Kurator für Karten und Atlanten der UBL, 1000 Jahre der Weltgeschichte, beeindruckend informativ und schön gestaltet. Ein guter Buchtipp für Weihnachten!


NEW YORKER BARS


James & Karla Murray, Dan Q. Dao

Great Bars of New York City

30 of Manhattan's Best-Loved Drinking Establishments

240 Seiten, 220 Farbabbildungen

Gebunden, 21,0 x 27,0 cm

€ 40,00 [D] / € 41,20 [A] / CHF 52,50

ISBN 978-3-7913-8019-3

Prestel Verlag München

September 2024

 

©MSTCreative
... es gibt sie noch, jene alten Institutionen, mit viel Eichenholz und Lederhockern, verspiegelter Bartheke, Fotos an den Wänden und klassischen New Yorker Drinks wie Manhattan, Old Fashioned oder Metropolitan! Die bereits von mehreren Bänden im Prestel Verlag München (s. vorherige Besprechung "Store FrontNYC") bekannten New Yorker  Fotografen James and Karla Murray laden in ihrem großen Barbuch Leser dazu ein, die legendärsten 30 Bars in NYC bzw. auf Manhattan anhand von großformatigen Fotos kennenzulernen. Die Murrays zeigen die klassischen Bars von innen und von außen, mit viel Gespür fürs Detail und voller Atmosphäre. Die informativen Texte zu den einzelnen Orten stammen von dem vietnamesisch-amerikanischen Journalisten Dan Q. Dao.

 


New Yorks Bars sind ein Melting Pot, und Hemingway's Ausspruch "If you want to know about a culture, spend a night in its bars" trifft voll zu. Menschen jeglicher Herkunft und Kultur kehren hier ein, je nach Neighborhood in neuer Zusammensetzung. Für Viele sind Bars jedoch nicht nur der Platz um einen Drink zu nehmen, sondern zugleich - speziell bei nicht ganz luxuriösen Wohnverhältnissen – ein "Home away from home".

 

McSorley's©PrestelVerlag

7B Horseshoe Bar©PrestelVerlag
Es handelt sich bei den vorgestellten 30 Bars meist um "Klassiker". Da gibt es die altehrwürdige Etablissements wie McSorley's Old Ale House, ein Irish Pub, der seit 1854 in Betrieb sein soll. Ausgeschenkt werden zwei Biersorten: Sorley's Ale und Sorley's Dark, beide serviert in "schooners", einer Art kleine Tassen. Die Old Town Bar war ein Gathering Place für Literaten und auch die White Horse Tavern erfreute sich bei Schriftstellern großer Beliebtheit: Dylan Thomas oder James Baldwin sammelten hier ihre Ideen bei einem Drink. Die 7B Horseshoe Bar hat zwar schon mehrmals die Besitzer gewechselt, befinde sich aber immer noch im selben Ziegelbau von 1835 und war schon häufiger in Movies zu sehen.

 


Die Fraunces Tavern galt als der geheime Treff von Freiheitskämpfern im Unabhängigkeitskampf, Ende des 18. Jahrhunderts, und die Offizieren von George Washington nahmen hier ihre Weisungen entgegen. Das alte Gebäude beherbergt neben einer Bar auch ein Museum und ein Restaurant. The Campbell, versteckt im Grand Central Terminal, wurde im Stil eines Florentinischen Palasts aus dem 13. Jh. von Railroad-Tycoon John W. Campbell entworfen und wirkt ebenso elegant wie die King Cole Bar im St. Regis Hotel. Dort dominiert ein großartiges Wandbild von Maxfield Parrish, außerdem gilt sie als Geburtsort der Bloody Mary. 

 

 

Pete's Tavern ©PrestelVerlag
Eine eigene "Gattung" sind die sog. Speakeasies, die während der Prohibition 1920-33 aufkamen und im Verborgenen (mit geheimem Zugang) den Alkoholgenuss möglich machten. Zwei davon waren z.B. die Holiday Cocktail Lounge am St. Mark’s Place oder Pete's Tavern im Gramercy Park. Letztere durfte wegen ihrer Nähe zu Tammany Hall (Hauptsitz der Demokratischen Partei) auch währen der Prohibition geöffnet sein, der Hauptraum war lediglich als Blumenladen getarnt. Bei Please Don't Tell ist es der Hotdog-Imbiss "Crif Dogs", hinter dem sich diese Retro-Speakeasy-Bar verbirgt. Durch eine Telefonzelle gelangt man hinein.

 

Please Don't Tell ©PrestelVerlag
 

Es gibt „Dive Bars“, die traditionell schon um 8 Uhr morgens öffnen und damit gerade den Schichtarbeitern entgegenkommen. Milano's Bar in der Bowery oder die Spring Lounge sind „Arbeiterbars“, wie auch Rudy's Bar & Grill. In ihnen gibt es noch preiswertes Bier und manchmal sogar gratis Hotdogs dazu! 

 

Dante ©PrestelVerlag

Beauty Bar©PrestelVerlag
Dante ist, wie der Name sagt, italienisch inspiriert, und seit 1915 eine Institution im Village. Sie wurde 2019 sogar zur weltbesten Bar gewählt. Dante ist vom Stil her schon ungewöhnlich, doch die Beauty Bar im East Village fällt komplett aus dem Rahmen: In einen alten Friseursaloon eröffnete die Bar 1995, mit alten Kronleuchtern, Trockenhauben und Frisurenfotos an den Wänden. Sie ist beliebt für Photoshoots und Videos und bietet Gästen Livemusik im Blue Rinse Back Room.

 

Das Stonewall Inn war Symbol für den Kampf der LGBTQ+ Gemeinde, die bunt dekorierte, heitere Bar Cubbyhole gilt seit Eröffnung 1987 als eine der wenigen Lesbenbars in der Stadt. Einige legendäre Treffs, wurden wegen ihrer ikonischen Bedeutung im Buch gelistet, obwohl es sie inzwischen zwar nicht mehr gibt. Dazu gehören die Lenox Lounge in Harlem, die Mars Bar im East Village oder Chumley's im West Village. 

 

Für trinkfreudige Besucher gibt es am Buchende eine Karte mit Eintragung der Bars, hier (anders als im Text) alphabetisch geordnet und mit Nummern versehen. Man lernt viel mit diesem Buch und fühlt sich sofort verleitet, beim nächsten Besuch einige der Bars aufzusuchen.

 

©Text: MB/BriKrae 

 ©Fotos soweit nicht anders angegeben: MB


 

 

Episoden aus Harlem

 

 Sidik Fofana, Dünne Wände

Claassen Verlag Berlin

256 S., Hardcover 23 €, ISBN 9783546100151, 2024

Originaltitel: Stories from the Tenants Downstairs, übersetzt von Jens Friebe

 

 

Gleich vorweg: Ein Buch aus dem New Yorker „Harlem-Slang“ zu übersetzen, mag schwierig sein. Und, im Deutschen ist der Text auch teils sehr gewöhnungsbedürftig für Leser. Grundfrage hier ist: Sollte man das überhaupt versuchen? Es bleiben  Zweifel an der Übersetzung und persönlich würde ich die englische Version vorziehen. 

 

ClaassenVerlag©RogWalker
Dennoch, kürzlich ist im Berliner Claassen Verlag das Erstlingswerk des Amerikaners  Sidik Fofana (Foto rechts) mit dem Titel "Stories from the Tenants Downstairs" von Jens Friebe ins Deutsche übersetzt worden. Ungeachtet aller sprachlichen Bedenken handelt es sich um einen lesenswerten Roman, der ein gutes Bild von einer nicht gerade begünstigten sozialen Schicht im überwiegend schwarzen Harlem gibt. 

 

Er spielt in einer hellhörigen (daher der Titel!) Wohnsiedlung in Harlem, im Norden Manhattans, in der sog. Banneker Terrace an der 129th Street/Frederick Douglass Avenue. Reell existiert dieser Wohnkomplex zwar nicht, aber vielleicht ist er vergleichbar mit den Manhattanville Houses – einem „Public Housing Project“ zwischen Broadway und Amsterdam Ave., 129th-133rd Street, bestehend aus sechs 20-stöckigen Gebäuden mit 1272 Apartments, 1961 fertiggestellt. Nur um eine Vorstellung von den  Wohngegebenheiten zu geben …

 

Der Roman gliedert sich in Episoden, die mehr oder weniger stark durch die Charaktere verbunden werden. Eine Hauptdarstellerin ist Ms. Dallas, die am Flughafen arbeitet und im Zweitjob an einer Schule hilfsbedürftige Kinder betreut. Da der Autor, Fofana, selbst Lehrer in Brooklyn ist und Kreatives Schreiben an der New York University studiert hat, dürfte er gut Bescheid wissen, wie es in Schulen in den weniger privilegierten Vierteln zugeht.


Gedanken, Hoffnungen, Zweifel und Sehnsüchte, Kämpfe und Liebschaften der Mieter/innen stehen im Zentrum der Episoden. Eine weitere Romanfigur  heißt Mimi und lebt in Apartment 14D. Die junge, schwarze  Frau ist die Mutter eines Sohnes, der Beeinträchtigungen hat, seit er als Kleinkind giftige Farbe geleckt hat. Mimi arbeitet als Bedienung (und lässt für gutes Trinkgeld auch betatschen) und flicht nebenzu Zöpfe, afrikanische Braids.

Als Gehilfen hat sie Dary, jung und gay, und ansonsten bei einem Escort Service tätig. Wie ein roter Faden zieht sich die Sorge, wie sie die nächste Miete aufbringen kann, durch Mimis Leben, doch zwischendurch wird sie schwach und schmeißt das hart verdiente Geld für sinnlose Luxusartikel raus. Fortunes Vater Swan wohnt ebenfalls im selben Haus, in Apartment 6B, bei seiner Mutter Ms. Dallas, und pflegt Umgang mit eher zwielichtigen Figuren, immer nah dran, auf die schiefe Bahn zu gelangen. 

 

Murray, ein alter Mann, sitzt seit Jahren täglich auf dem Gehweg. Er baut sein Schachbrett immer an der gleichen Stelle auf und wartet auf Mitspieler. Dann wird er plötzlich vertrieben, da er das Klientel eines neu eröffneten Restaurants stören könnte. Und dann gibt es in dem Buch die Briefe von Nasjee, 12 Jahre alt, die mit Kumpeln als Gruppe „Lite Feet „in U-Bahnen tanzte und einen tragischen Unfall miterlebt hat. Der Brief strotzt vor Fehlern (und ist im Deutschen dadurch schwer lesbar) und berührt.

Es geht zumeist um Episoden und Eskapaden in dem Wohnkomplex, der alles andere als schön ist, aber von Vielen als ihr einzige Zuflucht betrachtet wird. Es handelt sich um eine Schicksalsgemeinschaft von Personen, die selten auf der Gewinnerseite stehen, einfache schwarze Menschen im ständigen Kampf ums Überleben, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. 

 

Doch auch hier wieder schlechte News für die Mieter: Ihr Wohnblock wurde verkauft – was im Zuge der Gentrifizierung von Harlem tatsächlich keine Seltenheit ist ­– und die ersten Mieter haben die Aufforderung zur Räumung erhalten, jene zuerst, die mit der Mietzahlung zurück liegen bzw. von denen am wenigsten Widerspruch zu erwarten ist. Dünne Wände erzählt von einer Gemeinschaft, die bedroht wird und trotz aller Unterschiede irgendwie zusammenhält.  

 

Das Buchcover zeigt eine Häuserfront mit verschlossenen Fenstern. Eines davon ist einen Spalt geöffnet, vielleicht um zumindest einen kleinen Einblick zu geben in eine Gesellschaft, die die meisten von uns sich so nicht vorstellen können. 

 

©Fotos: Claassen Verlag (Buchcover, Autor) sowie MB (3)

©Text: MB 

 

Das Phänomen Sneakers. Sammelwahn, Lifestyle oder nur Turnschuh?


Kikikickz, Sneaker Obsession

Paperback, Klappenbroschur, 176 Seiten, 200 Abb.

ISBN: 978-3-7913-8042-1

Erschienen am 28. Februar 2024 

Prestel Verlag München 

 € 25,00 [D] inkl. MwSt. 

 

 

 

 

 

 „Hintergründe, Marken, Trends – alles, was man über Sneaker wissen muss“, so lautet der Untertitel dieses neu bei Prestel (München) erschienenen Buchs „Sneaker Obsession“, das zunächst durch seinen grellgelben Umschlag mit darauf plastisch geprägten roten Sneakers optisch auffällt. Zugegeben, die Rezensentin dieses Buches hatte vorher nicht viel Ahnung von Sneakern und dem damit verbundenen Hype. Sie hatte in Folie eingepackte Sneakers zu mehreren Hundert oder gar Tausend Euros in spezialisierten Läden in New Yorks In-Vierteln bewundert, kennt einen Kollegen aus Frankreich, der Sneaker sammelt, hat aber in ihrem eigenen Schuhschrank, abgesehen von Laufschuhen, gerade einmal zwei paar alte Converse-Sneakers, die einen mit Comic-Motiven, die anderen in Camouflage, stehen.

Angesichts dessen kam dieses Buch über die Welt der Sneaker gerade recht. In ihm geht es höchst informativ um viele Aspekte: von den Ursprüngen der Sneakerkultur über Modelle und Codes bis hin zu den aktuellen Trends und Entwicklungen. Turnschuhe sind eben mehr als universal tragbares Schuhwerk, nämlich begehrte Sammel- und Designobjekte, Kultgegenstände und Wertanlagen. Mittels zahlreicher Fotos, Infografiken und detaillierter Produktbilder wird dieses Buch zum hilfreichen Nachschlagewerk.

 

Die „Schleicher“ mit Kultcharakter

Sneakers, Turn- oder Sportschuhe – der Name leitet sich von „to sneak“ (schleichen) ab. Man kann sich dank der Gummisohlen  weitgehend geräuschlos bewegen. In „Sneaker Obsession“ geht es aber weniger um die alten zweckmäßigen Turnschuhe als vielmehr um die heutigen Lifestyle-Schuhe. Herausgegeben wurde das Buch von Kikikickz, einem führender Sneaker-Händler aus Frankreich, der auf seltene Modelle und Limited Editions spezialisiert ist. Fachleute dieser Firma, vor allem der Modejournalist Alexandre Pauwels, Werbeteckter bei Kikikickz, erklären, was sich hinter Begriffen wie „Reseller“, „Collabs“ oder „Raffles“ verbirgt.

 

Das Buch ist dabei in sechs große Kapitel gegliedert. Im ersten, dem Einführungs-Kapitel, geht es um die Begriffsdefinition, aber auch um die „Anatomie“ eines Schuhs, mit Kragen, Ferse, Midguard, Outsole, etc., alles klar anhand einer Zeichnung erklärt. Dann die Terminologie: Schon gewusst, was „BNIB“ heißt? Es steht für „brand new in box“, während „DS“ (deadstock) ursprünglich hieß, dass ein Schuh nicht mehr im Einzelhandel erhältlich ist, heute jedoch mehr für „noch nie probiert/getragen“ verwendet wird. „Restock“ bezieht sich auf eine neue Charge eines ausverkauften Sneakers und ein „F&F“-Sneaker ist selten und wird nur intern an „family & friends“ weitergegeben.


Die Erfolgsgeschichte der Sneaker von den Anfängen über Hip-Hop zum Lifestyle-Objekt steht im Zentrum des nächsten Kapitels. Vom frühen 20. Jh., damals noch Sportequipment, zum Stilsymbol und Objekt der Begierde. Adidas, Puma, Asics – Olympische Spiele, Fußball WM – machten den Anfang, doch schon früh zogen jugendliche Subkulturen Sneaker als Anti-Establishment-Symbol auf der Straße an. 

 

Der Hip-Hop machte ab den frühen 1970ern, in New York, die Sneaker zum Modeaccessoire. Run-DMC zeigte sich verbunden mit Adidas, 50 Cent oder Jay-Z wandten sich Reebok zu. Dann kam Michael Jordan (li.). Der Basketball-Superstar katapultierte die Sneaker-Kultur zu neuen Höhen als er 1984 mit Nike-Schuhen auftrat. Andere NBA-Spieler taten es ihm nach und in den 1990ern hatte sich der Turnschuh zum Lifestyle-Objekt entwickelt.

 

Marken und Modelle 

Im nächsten Kapitel kann man viel lernen, vor alle dank der Nebeneinanderstellung der maßgeblichen Modelle. Bekannte Brands wie wie Nike, Adidas, Converse oder Reebok werden in diesem Hauptteil des Buches vorgestellt, aber auch Exoten und Luxusmarken. Nike's Geburtsstunde war 1971 in in Beaverton/OR, die Marke ging jedoch aus dem 1964 gegründeten „Blue Ribbon“ hervor.

 

Ausstellung zur Entstehung von Nike im Hayward Field der University of Oregon in Eugene
Vor allem die Air-Max-Modelle wurden wegweisend und natürlich die „Jordans“, eine Tochtergesellschaft von Nike, 1984 gegründet. Es war die „Signature Line“ der Firma und sie stand für besonders kultige Sneaker, die als Air Jordan-Modelle 1985-1995 Furore machten. Der „Jordan 3 Black Cement“ von Nike war für den Turnschuhmarkt wie das iPhone für den Mobiltelefonmarkt. 1988 kam der Schuh heraus, dann noch einmal 2011, und nach wenigen Minuten war er weltweit ausverkauft.

Adidas galt als zeitlos (und zwischendurch auch als „langweilig“). Die Firma war 1949 von Adolf Dassler gegründet worden, das 3-Streifen-Logo ging bald um die Welt, nicht nur dank Run-DMC, der Haupt-Werbeträger der Firma wurde. Bei „Yeezy“ handelt es sich um eine Kollaboration zwischen Adidas und Kanye West. Es entstand ein Imperium um den beliebten „Yeezy Boost“, bis der Rapper 2022 in Ungnade fiel, und mit ihm Adidas.

 

Rudolf Dassler, der Bruder des Adidas-Gründers, hatte nach dem zweiten Weltkrieg Puma gegründet, mit einer springende Wildkatze als Logo. Für Aufsehen sorgte die Firma 1993 mit dem „Disc Blaze“, einem neuem Verschlusssystem. Die Ende des 19. Jh. in Großbritannien gegründete Firma Reebok galt immer ein wenig als Außenseiter, betrieb Sponsoring in geringerem Ausmaß. Die Firma lief 2005 erst zu Adidas über und wurde dann 2022 Teil der Authentic Brands Group USA.

 


Der Klassiker ist ... Converse, vor allem dank des Basketball-Stars Chuck Taylor. Die „Chuck Taylor All Stars“ liefen 1917 erstmals vom Band und wurden zum Dauerbrenner. Eines der meistverkauften Sneakermodelle, ein Klassiker und seit fast 100 Jahren auf dem (amerikanischen) Markt – das sind die Chucks.

 

Andere, meist jüngere Firmen, die im Buch zur Sprache kommen sind z.B. New Balance, beliebt in der Lifestylekategorie, die japanische Firma Asics, die für ihre Gel-Technologie berühmt wurde, oder Vans aus Anaheim/California, die Top-Skater-Marke. Am Rande kommen Saucony, Fila oder Solomon und Luxusmarken wie Balenciaga, Gucci oder Alexander McQueen vor.


Sneaker-Hype und Sneakerheads

„Rationalität zieht gegenüber der Leidenschaft den Kürzeren“ und „selten ist gleichbedeutend mit teuer“, oft werden die heiß begehrten Schuhe gar nicht  getragen, sondern bleiben in der Schachtel. Sneakerheads verfallen oft in einen Kaufwahn – so der Sammler Elie Coster in einem der (zu jedem Kapitel) eingebauten Interviews mit Sneaker-Freaks.

 

Der Hype um Sneakers - es werden Begriffe wie „Limited Editions“ (limitierte Auflagen und exklusive Veröffentlichungen) und Kollaborationen  erklärt. Partnerschaften mit Stars, v.a. mit Rappern, aber auch mit Luxus-Brands, Lifestyle-Stores oder Streetware/Mode-Labels sind bedeutend geworden. Z.B. kooperieren Puma mit Jil Sander, Jordan mit Dior oder es gibt Vans x Supreme, Nike Artists Series, Adidas x Gucci, Nike SB x Supreme. Kanye West galt lange als „Revolutionär“ im Business; er löste 2009 mit avantgardistischen Designs und neuartigem Marketing einen Hype aus. Heute sind  Virgil Abloh, Sneaker-Designer, und Travis Scott, Rapper aus Houston, der eigene Air Jordans kreiert und seit 2020 bei Nike unter Vertrag steht, Namen, die jeder Sneakerhead kennt. Eine immer wichtigere Rolle spielt die digitale Welt, Influencer und Prominente bei der Jagd auf „Limited Editions“. Per Raffle-Guide werden neue Veröffentlichungen online vertrieben, das Kaufrecht wird verlost.

 

Wobei wir beim „Resale“-Markt wären, seit den 1980ern eine Multimillionen-Dollar-Industrie. Privat werden in Läden nicht mehr erhältliche, begehrte Sneaker, gewinnbringend weiterverkauft. Resale-Plattformen wie StockX oder Kikkickz stellen Kontakte her. Der richtige Preis auf dem Wiederverkaufsmarkt basiert auf Angebot und Nachfrage, wobei Infuencer, Designs, Farben, aber auch Größen eine Rolle spielen. Und natürlich gibt es auch Fälschungen, dazu im Buch die maßgeblichen Kriterien, wie man solche erkennt.

 

Die Zukunft der Sneaker Culture? Nachhaltigkeit und Inklusion? Es gibt verschiedene Meinungen und im Text geht es um die Kontroversen: Modetrend oder Spekulationsblase, langfristiges Phänomen und zukunftsfähige Wirtschaft? Was ist an Innovation noch machbar (3-D-Druck, Personalisierung), was kann in Sachen Nachhaltigkeit (Recycling, Reuse-a-shoe) noch unternommen werden? Wie ernsthaft sind diesbezüglich die Bemühungen der Hersteller?

 

Sneaker-Kult für die Ewigkeit?


Jedes Jahr werden weltweit rund fünf Milliarden Sneaker produziert. Turnschuhe sind zum Massenphänomen geworden: in jeder Lebenslage tragbar, Umsatztreiber der Mode- und Luxusindustrie und uramerikanisch. Sammler geben ihr Erspartes für limitierte Auflagen aus und machen ihr Haus zum Schuhmuseum, in der Hoffnung auf Wertsteigerung. Hersteller gehen mit dem Trend und legen immer wieder stark limitierte Editionen auf, die bereits unmittelbar später um das mehrfache des Kaufpreises verkauft werden. Unterstützt wird die Bewegung von Stars aus der Sport- und Musikszene, die Werbung machen
.

 


Sneakerheads“ - die Fanatiker, die Sammler, die Junkies.; sie sammeln und hoffen auf hohe Renditen. Wenn ein Modell gefällt, bleibt es oft erst mal ein paar Jahre im Schrank stehen. Wenn die Schuhe wieder aus den Läden verschwunden sind, werden sie aus dem Regal herausgeholt. Innerhalb der Sneaker-Szene gibt es verschiedene Trägertypen und kulturelle Unterschiede. In den USA ist eher sportlicher Look – wie Jordans – gefragt, Europa steht auf Running-Retro-Modelle in Halbschuh-Form. Technische Aspekte wie Verschlüsse, Materialien und Sohlen werden ebenfalls wichtiger. Neben klassischen Tennisschuhen wie dem Stan Smith sind Schuhe in Metallic-Optik oder futuristischen Styles gefragt.

 


Die teuersten Sneaker aller Zeiten war übrigens ein Air Jordan 13, der für 2,2 Mio. Dollar am 11.4.2023 bei Sotheby's versteigert wurde, gefolgt vom Nike Air Yeezy 1 ($ 1,8 Mio.) und einem Nike Air Ship zu $ 1,47 Mio, von Michael Jordan signiert und 1984 von ihm getragen.

 

©Fotos: Prestel Verlag (Kikikickz Archiv, Nike, Reebok, Bridgeman Images, Suzanne Daniels) sowie MB (2)

©Text: MB