Jonathan Lethem
Der Fall Brooklyn
Roman Hardcover, 26,00 €
Aus dem Amerikanischen von: Thomas Gunkel
1. Auflage 2025, 448 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50244-2
Es geht um die Dean Street in Brooklyn, die sich knapp 5 Meilen lang vom Viertel Brooklyn Heights nahe der Waterfront (East River) im Westen bis Broadway Junction im Osten, hinzieht. Genauer gesagt, in dem Roman geht es um den Abschnitt in Boerum Hill, begrenzt durch die Schermerhorn Street im Norden, die 4th Ave. im Osten, Smith und Court St. im Westen und mit Warren oder Wyckoff Street als Südgrenze. Das sehr feine "Brooklyn Heights" liegt im Nordwesten, im Süden erstreckt sich hingegen Gowanus, und hier grenzen die massiven Wohnblöcke der Ärmeren, die "Projects" oder Sozialwohnsiedlungen, an. Im Norden der Smith Street siedelte einst die Mohawk Indian Community aus Quebec/Kanada, jene schwindelfreien Arbeiter, die beim Wolkenkratzerbau arbeiteten. Auch auf sie kommt Letham zu sprechen.
Im Kern des Viertels überwiegen dreigeschossige Reihenhäuser, die zwischen 1840 und 1870 entstanden sind. "Hill" ist übertrieben: Das Areal ist eher flach und auch der Name eher willkürzlich gewählt: Er leitet sich von Henry Boerum, einem Holländer aus Long Island, ab. Noch bis um die Wende zum 21. Jh. war das Areal großteils von Arbeitern und Mittelklasse-Familien, v.a. Afroamerikanern und Puertorikanern, besiedelt. Dann schlug die Gentrifizierung zu und veränderte das Neighborhood komplett, machte es zu einem "upper-class"-Viertel. Der Begriff Gentrifizierung, um den es im Buch immer wieder geht, beschreibt, wie Banken und Immobilienmakler ein Viertel zu Veränderungen zwingen – Veränderungen, die die Bewohner hoffen, im Griff zu haben.
Die "Brownstoner", die im Viertel leben stammen nach Worten Lethams "...aus Idaho, Manhattan, Pittsburg, Frankreich. Von überall außer Brooklyn. Sie haben keine Ahnung, wo sie gelandet sind.... Da sind Doktoranden, radikale Organisatoren, Quäker, da sind Maler und Schriftsteller, jüngere Schwule, die aus Brooklyn Heights herüberschwappen... Sie bilden Bündnisse und Gegenbündnisse... pflanzen viele Bäume.... Jeder Einzele von ihnen hat schon mal Pot geraucht... ".
Mehr als nur eine Straße
Für Autor Jonathan Letham ist die Dean Street in Brooklyn jedoch mehr als nur eine Straße. Er wuchs hier auf und stellte seine eigenen Beobachtungen an. Hier treffen reiche, verwöhnte Kids auf Jungs aus der "Hood", hier gibt es große Verbrechen und kleine Gaunereien, teils am hellichten Tag. Geld und Macht, Gewalt und Raffinesse, rivalisierende Gangs, die sich streiten, wer in der Straße Hockey spielen oder skaten darf, treffen hier aufeinander.
Jonathan Lethem erzählt die wechselvolle Geschichte einer der heute hippsten
Straßen New Yorks. Er springt in den einzelnen Kapiteln in verschiedene Zeiten,
beobachtet die Geschehnisse, Kleinkriminalität, Rassismus, Gentrifizierung aber
auch die "normale Welt". Seine Figuren haben keine reellen Namen, sie
bleiben anonym und tragen nur Spitznamen. Es gibt die "Schreierin"
oder den "Schlüpfer", den "Kotelettenmann" oder – benannt nach einer (noch
existierenden) Bar – den "Brazen-Head-Schwätzer". Ins Deutsche
übersetzt, klingen die Namen manchmal etwas künstlich, während es im Englischen
z.B. mit "Mr. Clean", "The Wheazer" oder "The Screamer"
besser passt.
Wichtig ist Letham die Interaktion, die Art und Weise, wie Menschen einander wahrnehmen, sich in einem bestimmten Umkreis verhalten. In welche Kategorien ordnen sie sich ein: nach Hautfarbe, Beruf, Alter, Verhalten... Und, es geht immer wieder um Gentrifizierung, um den Alltag in der Grenzzone zwischen Reich und Arm, um unsichtbare Gesetze und Strukturen.
Großer Literat aus Brooklyn
Jonathan Lethem wurde 1964 in New York geboren und ist Autor zahlreicher Romane, darunter die Brooklyn-Romane "Motherless Brooklyn" und "Die Festung der Einsamkeit". Letzteres ist eine traditionelle Coming-of-Age Geschichte. Darin geht es um ein Kind, das schaut, lernt und Erfahrungen aufnimmt, versucht, sie einzuordnen und zu verstehen. Im "Fall Brooklyn" wird der Blickwinkel nun vergrößert.
Das hier vorgestellte Buch liest sich zunächst etwas ungewohnt: Die Kapitel sind durchnummeriert, die Überschriften wirken oft mal seltsam, z.B. "43. Der Fall Boerum (im Stil des 21. Jahrhunderts)", darunter steht jeweils der betrachtete Zeitpunkt oder -raum. Der ganze Roman erinnert ein wenig an ein Filmdrehbuch. Allerdings ein sehr interessantes, zumindest für alle die an Brooklyn, die Dean Street und, vor allem, an Gesellschaftsstudien interessiert sind.
Für sein Werk erhielt Letham zahlreiche Preise und
Auszeichnungen, u.a. den "National Book Critics Award", "Gold
Dagger" und "MacArthur Fellowship". Lethem lehrt am Pomona
College in Südkalifornien Creative Writing und lebt mit Familie in Kalifornien.
• Mehr Infos unter: www.jonathanlethem.com