Hängende Dächer und Formen aus der Natur

Frei Otto. Bauen mit der Natur

Hardcover, Pappband, 256 Seiten, 24,0x28,7cm

Prestel Verlag München, 2025

ISBN: 978-3-7913-7749-0

59 €

 

Um es gleich vorwegzunehmen: Dies ist ein Buch für Architekturfans und für Spezialisten, keine leichte Lektüre zum Blättern auf dem Sofa. Anlässlich des 100. Geburtstags am 31. Mai 2025 im Prestel Verlag München erschienen (Hrsg. Anna-Maria Meister und Joaquín Medina Warmburg), geht es um Leben, Werk und Wirkung eines der bedeutendsten und einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts, Frei (Vorname) Otto (Nachname).

 

Ottos visionäre Arbeiten wie auch seine Vorstellungen und Ideen, Philosophien und Hintergründe werden in dieser Publikation in ganzer Bandbreite vorgestellt. Naturbegriff, Naturbilder und Naturprinzipien, die ihn beeinflussten und seine Entwürfe und Bauten prägten, stehen im Vordergrund. Ottos bahnbrechende Pionierleistungen auf heute aktuellen Gebieten wie umweltbewusstes Bauen, Bauen mit der Natur oder Bionik, werden an prägnanten Beispielen demonstriert. Sein oberstes Ziel war es, mit minimalem Einsatz von Material, Fläche und Energie lebenswerte, menschliche Räume zu schaffen und Impulse für ökologisches, humanes Bauen zu geben. Sein ganzheitliches Naturverständnis und seine Neuinterpretation des Verhältnisses von Natur, Technik und Kultur sind der rote Faden des Buches.

 


 

„Das hängende Dach“

1925 in Siegmar/Sachsen geboren, hat Otto den ungewöhnlichen Vornamen seiner Mutter und deren liberaler Gesinnung zu verdanken. Sie war, wie der Vater, Mitglied im Deutschen Werkbund. Vater und Großvater waren Bildhauer, der Sohn studierte nach Wehrdienst und französischer Kriegsgefangenschaft an der TU Berlin Architektur, dann Soziologie und Städtebau an der University of Virginia. In den USA begegnete er auch erstmals Architekturgenies wie F.L. Wright, Eero Saarinen, Mies van der Rohe oder Richard Neutra. 

 

1952 eröffnete Otto in Berlin-Zehlendorf ein eigenes Architekturbüro. Stark beeindruckt hatte ihn ein Modell der Dorton Arena in Raleigh/NC, das erste große Bauwerk mit sattelförmig geschwungenen Dach und aufgehängtem Seilnetz. Er schrieb über diese neue Bautechnik, „Das hängende Dach“, seine Doktorarbeit. Zahlreiche Preise und Ehrungen, posthum nach seinem Tod 2015 auch der Pritzker-Architekturpreis, waren Anerkennung für seine Leistungen.

 


Otto gilt als Pionier ökologischer Architektur und als Wegbereiter einer „menschlichen Architektur“. Er nahm seine Vorbilder aus der Natur. Vor allem wurde er jedoch als Schöpfer genial leichter, zeltartiger Konstruktionen bekannt, sogenannter leichter Flächentragwerke. Sein Herz schlug für den Leichtbau mit Seilnetzen und Gitterschalen. Zudem war er ein Vertreter der organischen Architektur und stellte sich damit in eine Reihe mit Richard Buckminster Fuller oder Santiago Calatrava.

 


Der Deutsche Pavillon der Expo in Montreal 1967 oder das Dach des 1972 eröffneten Olympiastadions in München (Foto unten), in Zusammenarbeit mit Günter Behnisch, sind Beispiele seines Schaffens. Wandelbare Schirme für die Konzerttournee von Pink Floyd 1977 in den USA (Foto oben) und 1990 die Ökohäuser in Berlin (ganz unten) sind andere bekannte Werke des Architekten. Frei Otto war Berater für das Projekt Stuttgart 21, er war für die „Lichtaugen“ – tropfenförmige Oberlichtöffnungen („Kelchstützen“) auf den Bahnsteigen – zuständig. Dabei fungierte Otto meist nur als „Ideengeber“ – die meisten Gebäude entstanden in Kooperation mit anderen Architekten.

 

©WikimediaCommons

 

Natur, Technik und Gesellschaft

Das Buch zum 100. Geburtstag und zum 10. Todestag soll den Architekten, Konstrukteur und Forscher würdigen.  Dies geschieht in einer Reihe von neun Essays zu drei Themenbereichen: Natur, Technik und Gesellschaft. Diesen voraus gehen ein Fototeil und ein Vorwort.

 

Der erste Bereich heißt „NATUR – Biologie, Ökologie, Klima“ und es geht um Ottos Entwicklungsstätte für den Leichtbau in Berlin 1959, um Projekte wie die Evangelische Kirche in Berlin-Zehlendorf 1959-63, sein eigenes Haus und Atelier in Warmbronn 1966-71. Die Natur als Baumeister, Klimahüllen und neue Luftarchitektur sindweitere Themen, die angesprochen werden.

 

„TECHNIK - Konstruktionen, Methoden, Formen“ befasst sich mit den „großen“ Otto-Bauten, dem deutschen Pavillon auf der Expo 67 in Montreal, den Münchner Olympischen Sportstätten 1968-72 oder der Multihalle in Mannheim (1975). Ottos leichte Konstruktionen und Dächer, die Art und Weise, wie er den Weg zum Leichtbau mit Zelten und Membranen ebnete, werden näher beleuchtet. Während einer Gastprofessur in St. Louis/USA hatte Otto 1958 Richard Buckminster Fuller kennengelernt, einen Protagonist des Leichtbaus. Mit diesem einte ihn die Absicht, mit geringstem Material- und Energieaufwand maximale Effizienz zu erzielen. Otto war besessen von Modellen und Modellstatik und das auch noch nachdem in den 1970ern digitale und rechnerische Methoden aufkamen. Der philosophische Ansatz Ottos und die Kluft zwischen Natürlichem und Künstlichem kommen in einem anderen interessanten Essay zur Sprache.

 

Das dritte große Kapitel lautet „GESELLSCHAFT– Ethik, Partizipation, Netzwerke“. Wissenschaftler beschäftigen sich hier zum Beispiel mit seiner Projektstudie „Stadt in der Arktis“ von 1971 und mit seinen  Ökohäusern in Berlin, die 1980-91 entstanden (Foto unten) und bemerkenswerte Lebensqualität boten. Die Überwindung gesellschaftlicher und ökologischer Grenzen zeigen die beiden realisierten Entwürfe am Tiergarten und am Askanischen Platz. Andere Themen sind die Materialexperimente von Frei Otto und seine Architekturlehre. Otto als Pädagoge – er hielt verschiedene Lehraufträge an amerikanischen Universitäten inne – kommt ebenfalls zur Sprache.

 

Den Abschluss des Buches bilden eine Biografie, eine Vorstellung der am Band mitwirkenden Autorinnen und Autoren und ein Abbildungsverzeichnis. Man lernt viel bei der Lektüre dieses Prestel-Bandes, muss allerdings auch bereit sein, sich in ein nicht ganz einfaches Thema zu vertiefen.

 

Text ©MB

Fotos ©PrestelVerlag / WikimediaCommons

KUNST UND NATUR - NOLDES GARTEN IN SEEBÜLL

 

Magdalena Moeller, 

Der Garten von Emil Nolde

Prestel Verlag München, 2025

Hardcover, 176 Seiten, 29 Euro

ISBN: 978-3-7913-7777-3

 

 

Ein Fest für Augen und Seele

Natur und Kunst im Garten von Emil Nolde in Seebüll ist das Thema dieses neu im Prestel Verlag erschienenen Bandes. Die Kunsthistorikerin und Fotografin Magdalena M. Moeller beschäftigt sich mit der Geschichte dieses Künstlergartens, mit dem Einfluss auf Noldes Werk und dessen Liebe zur Natur, vor allem aber mit dem Garten im Jahresverlauf. Reich bebildert mit Fotos und Reproduktionen von Noldes Werken, regt der Band sowohl Kunstfreunde als auch Hobbygärtner zum Lesen und Durchblättern an.

 

Künstlergärten gab es viele, z.B. ließen sich auch Liebermann, Monet oder Renoir von der Natur inspirieren. Auch Emil Nolde (1867-1956) verband Malerei und Gärtnerei, holte sich Anregungen von Farbenpracht und Blütenfülle für seine Blumengemälde und Aquarelle. Der Garten, heute Teil des Nolde Museums, liegt in Seebüll, in Nordfriesland, fast schon an der Grenze zu Dänemark. Das Ehepaar Emil und Ada Nolde hatte sich hier ab 1926 auf einer Warft, einem aufgeschütteten Hügel inmitten eines Marschgebiets, niedergelassen.


Vorausgeschickt wird dem Buch ein Plan des Blumengartens (der aber mehr ist als nur das!). Er schließt sich im Südwesten des Wohnhauses/Museum an, begrenzt durch die Gruft des Ehepaars am anderen Ende des Geländes, wo sich auch der Eingang befindet. Es gibt Insel-, Hügel-, Balken- und Kastenbeete, solche für Wildrosen, Tulpen oder Rudbeckien, und dazu Baumbestände – Laubbäume, aber auch Apfelbäume und Stachelbeeren.

 

Entstehung eines Künstlergartens

 

Die Geschichte von Emil Noldes Garten in Seebüll gibt Informationen darüber, wie die Noldes ans Werk gingen. Von Utenwarf, wo das Ehepaar 1914 ein baufälliges nordfriesisches Backsteinhaus erworben hatte, zog man 1926 ins nahe Seebüll, und legte nach dem Atelierbau gleich den Garten an, noch ehe das Haus bezugsfertig war. Die Gartenplanung erwies sich zunächst aufgrund der Gegebenheiten als schwierig, doch die Buchstaben A und E – für Ava und Emil – für die Beetformen brachten dann die Initialzündung. Als problematisch erwiesen sich der schwere Marschboden, der zu Verdichtung neigte, und die harschen klimatischen Bedingungen. Entwässerung war nötig, außerem Windschutz und Beachtung der Mikroklimate. 

Nolde führte Buch über Bäume und Pflanzen, Konstruktionen und Baumaßnahmen. Ergebnis war ein 2.000 qm großer zentraler Gartenbereich mit Blumenbeeten – ähnlich einem klassischen Bauerngarten, auch bezüglich der Pflanzenauswahl, aber ohne Mittelachse –, zentral das ovale Wasserbecken als Vogeltränke, dazu Baumreihen. Wichtig waren für den Künstler immer die Blickachsen und die Blütenvielfalt. Außer den sog. Buchstabenbeeten entstanden Kastenbeet und Hügelbeetstreifen und wurden Stauden und Sommerblumen, Zwiebelblühern, Büschen und Bäumen gepflanzt. Dank der ab den 1930ern zahlreich publizierten Versandkataloge war es ein Leichtes, vielerlei Sorten zu ordern.

 

 

Noldes Garten ist in erster Linie ein Ziergarten, der von April bis Ende Oktober sein volles Blütenspektrum zeigt. Gemüse war den Noldes unwichtig, Obstbäume und Beerenobst sind hingegen vertreten. Ada starb 1946, Emil selbst zehn Jahre später; beide sind in einer Gruft am Rand des Gartens bestattet. 2004 bis 2007 wurde der Garten wiederhergestellt, seit 2010 kann er wieder besucht werden. Historische Aufnahmen im Anschluss - Schwarzweiß-Fotos – zeigen den Garten zu Lebzeiten Noldes, des Öfteren sieht man auf ihnen auch das Künstlerehepaar.

Blumen und Bilder

Moeller stellt ausgewählte Werke Emil Noldes ihren eigenen Pflanzenaufnahmen gegenüber und schafft eine Symbiose von Malerei und Fotografie, Kunst und Natur. Blüten wie Mohn, Pfingstrosen, Sonnenblumen, Tulpen oder Dahlien, dienten als beliebtes Anschauungsmaterial. Noldes langjähriger Gärtner berichtet, dass der Künstler suchend von Blüte zu Blüte gewandelt sei, sie eingehend betrachtet hätte, ehe er sich dann die Staffelei aus der Werkstatt holen und aufstellen ließ und schnell und intensiv an einem Bild arbeitete. War es fertig, wurde es hineingebracht und von ihm und Ada begutachtet.

 

Die meisten Blumenbilder entstanden in den letzten 30 Jahren seines Lebens in Seebüll, zuletzt in Aquarelltechnik. Mohn (Papaver) war eine seiner Lieblingsblumen. Die Bilder, in einer besonderen Technik auf feuchtem Papier angefertigt, zeigen zerfließende Farben und ausfransende Ränder und wirken alle sehr spontan und leuchtend. 

 

 

 


 


Noldes Garten von April bis Oktober


Im umfangreichen Hauptteil des Buches begleitet Moeller die heutigen Gärtner bei ihrer Arbeit. Mit Text und vor allem vielen Fotos geht es um den Nolde-Garten im Wechsel der Jahreszeiten. Man sieht die saisonal bedingten Farb- und Höhenwechsel, die allmähliche Steigerung der Blütenpracht zum Sommer hin, die explodierende Vielfalt. Typische Stauden, die Nolde liebte, sind Mohn, Rittersporn, Taglilien, Margeriten, Sonnenbraut, Sonnenhut, Dahlien und Sonnenblumen.

 


Der Maler, ausgebildet als Holzbildhauer und Zeichner in Flensburg, sah sich, obwohl dänischer Staatsbürger, ab 1933 zunehmenden Angriffem der Nationalsozialisten ausgesetzt. 1937 wurden seine Werke beschlagnahmt und in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München gezeigt. Das und vieles mehr ist der kurzen Biografie, die auf die Gartenkapitel folgt, zu entnehmen.

 

Abschließend geht es um die „30 schönsten Blumen in Noldes Garten“. Sie werden alphabetisch mit Fotos gelistet, von Akelei, Bauernpfingstrose, Dahlie über Pfingstrose, Eisenhut, Indianernessel bis hin zu Orientalischem Mohn, Rittersporn, Schwertlilie, Taglilie und Sonnenblume – jeweils mit Herkunft, Blüte, Standort und besonderen Hinweisen. 

Ein bisschen schade ist, dass es leider keine Angaben dazu gibt, inwieweit die heutige Gartenbepflanzung noch jener ursprünglichen Noldes entspricht und ob dieser bzw. wie genau dieser selbst Details, wie die Namen von Arten notiert hat. Es wird erwähnt, dass ältere Sorten, die nicht mehr im Handel sind, durch neue, ähnliche ersetzt werden, doch unklar bleibt, ob es jemals exakte Pflanzlisten gab. Gerade bei Stauden wie Ritterspornen, Pfingstrosen oder auch Sonnenblumen gibt es so viele, teils sehr verschiedene Arten, dass es interessant gewesen wäre, zu wissen, welche genau Nolde ausgewählt hat. Immerhin lebte einer der größten deutschen Staudenzüchter, Karl Förster (1874-1970), der vielen der von Nolde geliebten Stauden erst die gebührende Rolle zumaß, zur etwa gleichen Zeit wie dieser (siehe auch: https://travelingbookworms.blogspot.com/2024/04/die-welt-ist-viel-zu-bunt-um-allzu.html).

 

Den Anhang bilden Literaturhinweise, Informationen zu Autorin und Fotografin und Fakten zum Nolde Museum Seebüll.  Das Buch ist hochwertig gestaltet, der Druck von guter Qualität. Der Band gibt Anregungen dazu, wie künstlerische Visionen in die Praxis umgesetzt werden können und liefert Inspiration für die Gestaltung des eigenen Gartens. 


©Text: MB     ©Fotos: PrestelVerlag