Susan Neiman: Von den Deutschen lernen

Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können
Aus dem Englischen von Christiana Goldmann
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2020
576 Seiten, 28 Euro
ISBN-10: 3446265988
ISBN-13: 978-3446265981

Der Originaltitel dieses hochinteressanten, wenn auch nicht immer leicht lesbaren Buches von Susan Neiman lautet: „Learning from the Germans. Race and the Memory of Evil“. Angesichts des Selbstbewusstseins der Amerikaner und der USA stellt sich vorab die Frage: Inwiefern könnte denn Deutschland den USA als Vorbild dienen?

Amerikanische Jüdin in Berlin
Am Ende der über 500 Seiten Text ist es Susan Neiman gelungen, den deutschen und den amerikanischen Umgang mit der eigenen Vergangenheit zu schildern und zu werten. Neimans frühe Karriere (geboren 1955 in Atlanta/Georgia) verlief nicht ganz geradlinig und nach Schulabbruch und etlichen Jobs studierte sie an die Harvard Universität Philosophie. 1986, nach der Promotion, folgte ein längerer Aufenthalt an der Freien Universität Berlin – wohlgemerkt, vor dem Fall der Berliner Mauer und der deutschen Wiedervereinigung. 1989 bis 1996 war Neiman Professorin an der Yale University in New Haven/Connecticut, danach für fünf Jahre an der Universität Tel Aviv.
Als sie im Jahr 2000 die Leitung des Einstein Forums in Potsdam übernahm, wurde ihre Entscheidung, als Jüdin nach Berlin zu ziehen, in Freundeskreisen mit großem Unverständis quittiert. Doch die Frau des verstorbenen Wiener Psychoanalytikers Felix de Mendelssohn (1944-2016) ging ihren Weg und lebt heute in Berlin-Neukölln.

Holocaust – Sklaverei
Neiman befasst sich zunächst damit, wie sich die Deutschen mit ihren eigenen Verbrechen auseinandersetzen (auf dem Foto das Holocaust Memorial in Berlin), und vergleicht diesbezüglich – was eher ungewöhnlich ist – auch Osten und Westen miteinander. Die deutsche Erinnerungskultur und der Umgang mit dem Holocaust stehen auf der einen Seite, Rassismus und die Aufarbeitung der Sklaverei in den USA auf der anderen.

Gegebenheiten und Verhaltensweisen vergleicht die Autorin auf ihre eigene, überhaupt nicht trocken-wissenschaftliche Weise. Sie setzt auf eine Mischung aus wissenschaftlicher Analyse, historischen Fakten und Anekdoten, Betrachtungen und Interviews, Begegnungen und Reflexionen. In Deutschland lässt sie Juden zu Wort kommen und journalistische Passagen wechseln sich ab mit argumentativen. Ihre Interviewpartner – z.B. die Arendt-Expertin Bettina Stangneth, Jan Philipp Reemtsma (Organisator der Wehrmachtsausstellungen) und Cilly Kugelmann (Jüdisches Museum Berlin) – tragen dazu bei, dass Neiman ein neues Genre einführt: das der intellektuellen Non-Fiction.

Brilliant ist Susan Neiman vor allem dann, wenn es um die Situation und Beschreibung des amerikanischen Rassismus geht. Das Massaker von Charleston 2015, bei dem ein Weißer neun Afroamerikaner ermordet hat, war für sie Anlass, das Buch in Angriff zu nehmen. Als jüdische Amerikanerin, die in den Südstaaten aufgewachsen ist und seit 20 Jahren in Berlin lebt, kann sie sich durchaus ein Urteil darüber erlauben, in welchem Verhältnis die deutsche „Vergangenheitsaufarbeitung“ zur historischen Aufarbeitung von Rassismus und Sklaverei in den Vereinigten Staaten steht.

Gleichermaßen interessant – und anfechtbar – ist Neimans Beschäftigung mit den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland. Die Autorin bestreitet, dass es in der DDR keine selbstkritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit gegeben hätte. Vielmehr sei im Osten die Haltung in Sachen Antifaschismus klarer gewesen als im Westen die Auseinandersetzung mit der Entnazifizierung. In den USA konstatiert Neiman hingegen schwere Versäumnisse. Ihrer Meinung herrschen dort bis heute Fehlinterpretationen und Lügen in der Darstellung der Sklaverei vor. Rassismus wird vielfach in den USA weiter verleugnet und Scham oder Schuldbewusstsein bzgl. geschehener Verbrechen gibt es kaum.

Täter und Opfer
Während eines Sabbaticals reiste Neiman nach Mississippi – zurück in die Südstaaten, wo sie aufgewachsen ist. Dort, wo schon immer das Erbe der Sklaverei omnipräsent und Rassismus Teil des Alltags ist, geht Neiman auf Spurensuche. Sie trifft Menschen und philosophiert über die Frage, wie eine Gesellschaft die eigene Geschichte verarbeiten kann.

Mississippi ist „schwarz“ und gleichzeitig „Trump Country“. Der „Lost Cause“, die Niederlage der Südstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg, wo es dem Süden um den Erhalt der Sklaverei als Gesellschafts- und Wirtschaftsform ging, hängt noch immer nach. Im Zentrum von Neimans Ausführungen steht der Fall Emmett Till, ein 14-jähriger schwarzer Junge auf Familienbesuch aus Chicago, der 1955 von weißen Männern gelyncht worden war, weil er mit einer jungen weißen Frau gesprochen hatte.

Neiman stellt fest, dass sich die Geschichte des Rassismus fortsetzt, zumal in den USA seit jeher Weiß und Schwarz – historisch: Täter und Opfer – nebeneinander her, teilweise sogar miteinander leben. Ihre Argumente werden aktuell fast täglich von der Realität überholt: Black Lives Matter, der Sturz von Statuen vom Sockel und landesweite Proteste.

Deutsche Vergangenheitsaufarbeitung erfolgreich
Wie sollten Gesellschaften mit der eigenen Geschichte umgehen, wie mit dem verübten Unrecht? Für Neiman ist die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung am Ende eine Erfolgsgeschichte. „Vergangenheitsaufarbeitung“ – das Wort „Vergangenheitsbewältigung“ wird bewusst gemieden –, wurde nach Meinung Neimans in Deutschland mit Bravour bewältigt, wohingegen die USA bis dato überhaupt keine geleistet haben.

Sicher ist es mutig, Holocaust und Sklaverei gegenüberzustellen. Inwieweit die Vergangenheitsaufarbeitung in den USA und in Deutschland tatsächlich verglichen werden kann, soll am Ende jedoch jeder selbst entscheiden. Einen Denkanstoß dazu gibt das lesenswerte Buch allemal!

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