JEANINE CUMMINS, AMERICAN DIRT


Jeanine Cummins

American Dirt

Übersetzung: Katharina Naumann

Taschenbuch, 560 Seiten

ISBN 978-3-499-27682-8

Rowohlt Taschenbuch, 1. Aufl. 2020

 

American Dirt“ erschien in den USA im Januar 2020 und gelangte schnell an die Spitze der New York Times Bestseller-Liste. Allerdings kamen schon bald öffentliche Vorwürfe unter dem Deckmantel des „Verbots der kulturellen Aneignung“ auf: Eine weiße junge Frau könne und dürfe einen solchen Roman doch nicht schreiben! Dazu wurde dem Verlag bzw. dem Verlagswesen insgesamt vorgeworfen, lateinamerikanische Autoren zu benachteiligen. Ende April erschien „American Dirt“ dann auf Deutsch im Rowohlt Verlag, und, um es gleich vorwegzunehmen, es ist ein absolut lesenswertes Buch!

 

Respekt gegenüber Migranten

Die Amerikanerin Jeanine Cummins wurde in Spanien geboren und lebt heute als Autorin in New York. Cummins – selbst zu einem Viertel Puerto-Ricanerin – erklärte auf die Anschuldigungen hin, dass es ihre Absicht gewesen sei, lateinamerikanische Einwanderer würdevoll darstellen und den verbreiteten Eindruck einer „hilflosen, verarmten, gesichtslosen braunen Masse, die auf unserer Türschwelle um Hilfe schreit“ zu revidieren. Und das ist ihr auch hervorragend gelungen!

Dennoch wurde ihr vorgeworfen, sie würde den Kampf der Migranten stereotyp, verletzend und beleidigend darstellen. Ihre Lesetour wurde abgesagt, es kam zu Ausschreitungen und bösen Kommentaren in Social-Media-Kanälen. Die Frage nach dem Anlass für diesen Aufstand führt vermutlich ins Politische, denn weder Polizei noch Grenzschutz kommen in dem Buch gut weg, nicht in Mexiko und auch nicht in den USA.

 

Abenteuerliche Fluchtaktion

Es ist ein an sich einfacher Plot, eine Fluchtgeschichte, mit einer begrenzten Anzahl von Akteuren, allerdings solchen, die man in Erinnerung behält. Es geht um eine Odyssee in den Norden Mexikos mit dem legendären Flüchtlingszug „La Bestia“ – wobei damit nicht eine einzelne Linie oder ein Zug gemeint ist, sondern ein Netz aus Güterzügen –, und um eine korrupte, hinterhältige und sexistische Policia auf mexikanischem bzw. Border Patrol auf amerikanischem Boden.

 


Hauptfigur der abenteuerlichen Rettungsaktion ist Lydia Quixano Pérez, die in Acapulco einen kleinen Buchladen betreibt und mit Mann Sebastián und Sohn Luca ein gutes Mittelklasse-Leben führt. Als eines Tages ein Mann namens Javier, belesen und charmant, im Buchshop auftaucht und zwei ihrer immer vorrätigen Lieblingsbücher auswählt, verliebt sie sich in ihn. Er wird zum Stammgast und Vertrauten. Zu diesem Zeitpunkt weiß Lydia noch nicht, dass er Jefe eines Drogenkartells namens Los Jardineros ist, und ihr mutiger Mann, ein Journalist, gerade einen Enthüllungsartikel über ihn verfasst hat.

 

Wenig später wird bei einer Geburtstagsfeier die gesamte Familie Lydias Opfer eines brutalen Massakers von „los sicarios“, den Killern des Kartells. Es ist reiner Zufall, dass sie und ihr 8-jähriger Sohn verschont bleiben, sie müssen jedoch umgehend fliehen, noch bevor die eher uninteressierte Policia den Fall aufnimmt. Die beiden werden zu Migranten und darum geht es im Großteil des Buches. Um die Flucht vor den Drogenkartellen quer durch Mexiko, über mehr als 1000 Meilen, und dann zu Fuß über die Grenze in die USA. 


Obwohl Lydia, zumindest anfangs, durchaus Geld für Flug- oder Bustickets hat, muss sie solche Verkehrsmittel meiden, um keine Fährte zu hinterlassen oder von korrupten Straßenblockaden gefasst zu werden. Sie erfährt erst viel später, das Javier Fuentes, der Boss, immer wusste, wo sie ist. Anfangs geht es noch per Bus, immer auf der Hut, Richtung Mexico City, dann weiter mit „La Bestia“, auf den Dächern von Güterzügen, gen Norden, getrieben von der Hoffnung auf ein neues, unbedrohtes Leben. Der Marsch durch die Sonorawüste, geführt von einem Schlepper, ist die letzte Etappe der brutalen Reise von Lydia, Luca und einige Weggefährten.

Die Frage nach dem Warum


Es geht in diesem Roman allgemein um die Fragte, warum Leute Lateinamerika verlassen und den gefährlichen Weg zur US-Grenze einschlagen. Wie viel Mut und welche Hartnäckigkeit sind nötig, durch „Kartell-Land“ und unter Einsatz des Lebens zur US-Grenze zu gelangen, um dann, in den meisten Fällen, bei der Flucht gefasst und abgewiesen zu werden.

 Besonders schön ist die Schilderung von Luca, dem scheuen Jungen, der anfänglich wenig spricht, aber scharf beobachtet und ein geografisches Genie ist. Brutalität und Machismo, Bestechung und Vergewaltigung, Hitze, Hunger und Verzicht, Mißtrauen und Angst prägen die fesselnde Schilderung und lassen Lydia und Luca über sich hinauswachsen. Sie schließen sich mit den Zwillingsschwestern Soledad und Rebeca, 15 und 14 Jahre alt, aus Honduras zusammen und verbünden sich mit ihnen gegen dubiose und gefährliche Gestalten aller Art.


Im Zentrum dieses Romans stehen der Kampf ums Überleben und bedingungslose Mutterliebe, es geht aber auch um Nächstenliebe seitens der meist armen Bewohner entlang der Flüchtlingsrouten, die Hilfsaktionen kirchlicher Gruppen und um den schmalen Grat zwischen Zusammenhalt und Misstrauen unter den. Denn die Angst vor dem Verschwinden, vor Unfällen, Verstümmelung und Tod ist überwältigend und omnipräsent. Dieser Roman ist eine ebenso anrührende und mitreißende wie brutal-realistische Story, die sich fast wie ein Thriller liest und zum Denken anregt. Nicht entgehen lassen!

 

© Foto Buchcover: Rowohlt Verlag, alle anderen: MB

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