Gary Shteyngart, Willkommen in Lake Success


Gary Shteyngart, Willkommen in Lake Success
Penguin Verlag – Random House, 2019
aus dem Englischen von Ingo Herzke, Hardcover mit Schutzumschlag
432 Seiten, ISBN: 978-3-328-60069-5, 24 Euro.
Buchcover ©Penguin/Random House

Es ist eine Roadtrip-Story, fast im Sinne Kerouacs, inklusive Sex, Drugs and Rock’n’Roll, und es ist eine Gesellschaftssatire, die ein wenig an Tom Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeiten“ erinnert. „Willkommen in Lake Success“ ist die Geschichte eines abgestürzten und skrupellosen Fonds-Managers auf Selbstfindungsreise durch die USA im Jahr der Präsidentschaftswahlen 2016, die sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen. Auf der Fahrt im Greyhound-Bus wird Hauptakteur Barry Cohen erstmals mit der realen Welt konfrontiert, stößt auf die Schicht der weniger Vermögenden, die sich weder Privatjet, noch Flugticket leisten können. Ein unglücklicher, narzisstischer Multimillionär, der sich selbst für einen inspirierten Philanthropen hält, macht sich auf die Suche nach „Authentizität“, umgeben von wertvollen Uhren und ausgestattet mit unverbindlichen „Freundschaftssätzen“.

Aus der High Society in die reelle Welt

Die ersten 100 Seiten hat man damit zu tun, sich in den Roman hineinzufinden. Die Art, wie diese Geschichte erzählt wird, vor allem die Charaktere sind alles andere als alltäglich. Die Welt der berüchtigten oberen 0,1 Prozent der New Yorker, die in Upper Manhattan mehrere hundert Quadratmeter große Wohnungen bewohnen, Heerscharen von Personal unterhalten und mit Millionen jonglieren, ist keine gewöhnliche. Dabei wurde Barry Cohen als Sohn eines jüdischen Poolreinigers in der Bronx geboren und ist ohne Mutter aufgewachsen. Er hat die typische amerikanische „Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär“-Karriere hingelegt: Studium in Princeton, Karriere als Fondsmanager mit einem geschätzten Vermögen von $ 60-135 Millionen. Verheiratet ist er mit einer indischen Frau namens Seema, die schön, intelligent und dazu Rechtsanwältin ist. Mit ihr hat er einen Sohn, den dreijährigen Shiva, der Autist ist.


Seine "Unzulänglichkeiten" sind ein Anlass für Cohen, auszubrechen, dazu ist die US-Börsenaufsicht hinter ihm her, wegen dubioser Pharmazie-Aktien, und auch seine eigene Hedgefonds-Firma ist am Abnippeln. Trost bietet lediglich seine exklusive Armbanduhrensammlung, die er im Trolley mit in den Greyhound-Bus nimmt, den er eines Morgens nach Streit mit seiner Frau und dem Kindermädchen betrunken und blutend besteigt. Das Ziel seiner Reise ist El Paso, wo seine College-Liebe Layla lebt. Nach 20 Jahren träumt er davon, die ehemalige Beziehung wieder aufleben zu lassen. Die „Great American Novel“ nimmt ihren Lauf: Barry wirft bald Kreditkarten und Mobilphone weg und lernt im Bus und an Haltepunkten den „Bodensatz“ der Gesellschaft und allerhand skurrile Gestalten kennen.

Über mehrere abenteuerliche Zwischenstationen gelangt er schließlich nach El Paso und steht er bei Layla, der inzwischen coolen Professorin, vor der Tür. Barry freundet sich mit deren Sohn Jonah an, der sich zwar als Nerd erweist, der Kartographie und Züge liebt, mit dem Barry jedoch gut zurechtkommt und ihm sogar Schwimmen beibringt. Auch Layla kommt er allmählich näher, doch die Sehnsucht nach der heilen Welt endet dann doch nach einigen Wochen wieder am Busbahnhof. In Phoenix ist sein Rollkoffer mit den Uhren verschwunden, Barry sitzt mittellos auf der Straße, bettelt und verhökert Crack um eine Busfahrkarte kaufen zu können.

Wechselnde Perspektiven
Im Roman wechseln sich die Kapitel über Barry und Seema ab. Während Barry im Bus unterwegs ist, beginnt die mit einem zweiten Kind schwangere Seema (das sie später aus Angst, dass es wieder autistisch sein könnte, abtreibt), ein Verhältnis mit ihrem Nachbarn Luis. Sie treffen sich heimlich in Hotels – ein Ausbruch aus der schwierigen Welt mit Shiva, der umgeben ist von Therapeuten u. a. Fachpersonal. Seema fährt zu Eltern nach Ohio und klärt sie über die Krankheit des Enkels auf. Bald darauf ziehen diese zu Seema nach NYC und dem Vater gelingt durch einfache Menschlichkeit statt wissenschaftlicher Therapien eine positive Verwandlung Shivas.

Dann ein Zeitsprung: Barry zurück in Downtown NYC. Er sitzt in einem kargen, trostlosen Raum der Börsenaufsicht, Seema hatte Barry beim FBI verraten. Doch zum Erstaunen des Lesers verläuft die ganze Sache glimpflich und Barry quartiert sich im luxuriösen Mandarin Oriental in New York ein. Als er sich eines Tages im Central Park mit Seema trifft, scheint die alte Liebe wieder aufzuflackern. Barry versucht Shiva das Schwimmen beizubringen, doch dieser knallt mit dem Kopf gegen den Beckenrand und kommt ins Krankenhaus. Seema lässt sich schließlich scheiden, Barry zieht in die Zweitwohnung nach Rhinebeck und vereinsamt. Seema lernt Zameer aus Bombay kennen, heiratet ihn wenig später und bekommt ein zweites Kind.
Barry legt zwar erfolgreich neue Fonds auf und kümmert sich zunächst um seine wieder wachsende Uhrensammlung – um sie später komplett zu verkaufen – doch eine Beziehung einzugehen gelingt ihm nicht mehr. Bei der Bar-Mizwa seines Sohnes schließlich, die Barry ausrichtet, kommt es quasi zur finalen Aussöhnung. Shiva nennt ihn schmeichelhaft seinen „Vogel-Vater“ und Seemas Eltern zeigen sich ebenso versöhnlich wie seine Ex-Frau. Am Ende repariert Barry höchstselbst jene Uhr – eine alte Universal Tri-Compax –, die mit ihm auf der Busreise war, um sie seinem Sohn zu geben. Ein Kreis schließt sich.

Gary Shteyngart wurde 1972 in Leningrad geboren und kam 1979 USA. „Willkommen in Lake Success“ ist der vierte Roman des New Yorker Kultautors, er wurde mehrfach zu einem der besten Bücher des Jahres 2018 gekürt und von HBO als Serie verfilmt. Der Titel leitet sich übrigens von einem Ort auf Long Island namens „Lake Success“ ab, von dem Barry Cohen besessen ist.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen