Tara Westover, Befreit. Wie Bildung mir die Welt erschloss.


Tara Westover, Befreit. Wie Bildung mir die Welt erschloss.
Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln, www.kiwi-verlag.de
aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld
ISBN: 978-3-462-05012-7, 2018, 448 Seiten, gebunden 23 €
2019 auch als TB erschienen (12 €).
© Buchcover: Kiwi-Verlag

Es ist ein „Bildungsroman“, weniger im klassischen Sinne als vielmehr im Sinne von Bildung als „Befreiung“. „Befreit“ heißen deshalb auch die ergreifenden Memoiren der amerikanischen Autorin Tara Westover. Wem Deborah Feldman’s „Unorthodox“ gefallen hat, bekommt hier eine in vielen Belangen vergleichbare Lebensgeschichte zu lesen, lediglich aus einer anderen religiösen Ecke.

Ein Schrottplatz als Klassenzimmer
Die Erinnerungen Westovers sind von Gewalt geprägt. Es fließt viel Blut, Wunden werden „weggebetet“, bagatellisiert und ignoriert. Vor allem bei der Arbeit auf dem väterlichen Schrottplatz sind die sieben Geschwister – Tara ist die Jüngste – immer wieder schweren Maschinen oder gefährlichem Handwerkszeug, Achtlosigkeit und Leichtsinn ausgesetzt und tragen häufig Verletzungen davon. Dazu kommen Autounfälle und seelische und körperliche Misshandlungen durch den sadistisch-unberechenbaren Bruder „Shawn“. Vater und Mutter sehen weg.

Es ist weniger eine Geschichte über Mormonen im Allgemeinen als vielmehr ein nüchterner Einblick in eine einzelne patriarchalisch geprägte, fundamentalistische Mormonen-Familie im ländlichen Idaho. Man lebt abgeschieden auf einer Farm am Fuße des Buck Peak, man liest das Book of Mormon und das Alte Testament und wartet ständig auf den Zusammenbruch der Zivilisation, das Ende der Welt. Vater „Gene“ sorgt dafür, dass sich die Familie mit Waffen, Munition, Vorräten und Rucksäcken mit Überlebensausrüstung eindeckt. Zudem werden ein unterirdischer Treibstofftank und ein Luftschutzkeller angelegt um für die Flucht in die Berge gewappnet zu sein.



Tara wächst in dieser von archaischer Gewalt und wenig Feingefühl oder Liebe geprägten Umgebung auf, in der Vater das Gesetz ist. Und ihm ist eine abgrundtiefe Abneigung gegen Behörden und Staat eigen, ebenso verachtet er Bildung. „Unzucht“ aller Art, z. B. eine falsche Rocklänge oder hochgekrempelte Ärmel, werden in der Familie zutiefst verschmäht. Für den Vater sind Ärzte „Teufel“ und Medikamente ein Tabu. Stattdessen kommen Arzneien aus „Gottes Apotheke“ zum Einsatz, homöopathische Präparate. Für die Heilung ist die unterwürfige Mutter „Faye“ zuständig, die in der heimischen Küche als Kräuterfrau wirkt.

Vom ländlichen Idaho ins britische Cambridge

Tara Westover wurde 1986 in Clifton, in der Südostecke Idahos, geboren, in weiter, menschenleerer Landschaft, knappe drei Fahrtstunden nördlich Provo/Utah, wo sich die Brigham Young University (BYU), die Mormonen-Universität (Foto links), befindet. Sie betritt erstmals im Alter von 17 Jahren eine Schulklasse und führt von da an einen beständigen Kampf um Bildung und Abnabelung einerseits und Familienbanden, Verpflichtungen und der Religion andererseits.

Ihr gelingt der Zugangstest zum College und die Aufnahme an der BYU, doch erlebt sie eine Art Kulturschock als sie auf mormonische Zimmergenossinnen trifft, die weitaus liberaler und freizügiger aufgewachsen sind als sie selbst. Sie entwickelt sich Stück für Stück von der unbedarften Schülerin, die im Kunstunterricht fragt, was Holocaust sei und keine Ahnung über Civil Rights oder die sinnvolle Nutzung von Lehrbüchern hat, zur wissbegierigen Studentin. Trotz zahlreicher Rückschläge, Versagensängste und finanziellen Nöte gelingt es ihr, 2008 erst den Bachelor of Arts an der BYU und dann mit Hilfe eines Stipendiums ein Studium im britischen Cambridge 2009 mit einem Master of Philosophy abzuschließen. 2014 promoviert sie in Cambridge in Geschichte, nach einem Gastsemester an der amerikanischen Harvard University.

Debütroman, der für Furore sorgt
Es dauert, bis sie einen Platz in der „neuen Welt“ gefunden hat. Erst spät, nach familiären Intrigen und einem „Segnungsversuch“ des Vaters bricht sie komplett mit ihrem bisherigen Leben und der Familie. Es ist keine Rebellion, sondern um ein langer, schmerzhafter Loslösungsprozess von Heimat, Herkunft und Familie und wohl auch ein bisschen von der Religion. Sie spricht zwar nie schlecht über die Latter-day Saints, wie die Mormonen korrekt heißen, aber sie kritisiert Polygamie und andere Regeln, bricht mit Speise- und Kleidungsvorschriften und Verboten, wie jenem, Ärzte zu konsultieren.

Tara Westovers Eltern, haben die Ausführungen und Anschuldigungen der Tochter als böse Verleumdung zurückgewiesen und präsentieren sich auch heute noch als heile, ganz normale Familie. Man betreibt unter dem Namen „Butterfly Express“ – auch im Internet –, einen profitablen Handel mit Heilölen und Tinkturen. Die Autorin selbst lebt in Großbritannien. „Educated“ – im Februar 2018 in Englisch erschienen, als „Befreit“ im September 2018 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln auf Deutsch, ist ihr erstes Werk.





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